Kurseinschreibung

Das Forschungsseminar widmet sich einer komplizierten Frage crossnationaler Gewalt- und Traumaforschung: der Umkehrung oder Aufweichung der binären Positionen von „Opfer“ und „Täter/in“. Obwohl die Täter-Opfer-Dichotomie bei der Bewertung, Ahndung und Bestrafung einer Gewalttat rechtlich unumgänglich sowie moralisch geboten ist, gibt es Fälle, in denen die Trennung in Geschädigte(r) und Schädigende/n nicht eindeutig ist. So etwa bei Racheakten, Gewaltkettenbildung (vgl. F. Nietzsche: „Verletzung und Gegenverletzung“) oder komplexen Beziehungsdynamiken (z.B. dem Stockholmsyndrom). Hier werden entlang der zeitlichen Achse die Seiten getauscht; aus ehemaligen Opfern, Überlebenden werden Täter oder Täterinnen, und vice versa. (Für die Selbst- oder Fremdwahrnehmung des Täterhandelns und Opferseins spielt die jeweilige Perspektive und Positionierung eine maßgebliche Rolle.)

Das Seminar spürt solchen Grenzfällen in Annäherung an verschiedene Disziplinen und Wissensfelder nach: Psychologie/Psychoanalyse/Psychopathologie/Psychoanalyse (Psychotraumatologie), Soziologie, Kultur- und Geschichtswissenschaft, Politikwissenschaft, Bild-, Film- und Medienwissenschaft, Geschlechterforschung, Philosophie und Ethik der Medizin, Rechtswissenschaft und Kriminalanthropologie (Kriminalistik=operative Fallanalyse, Forensische Psychiatrie).

Im Seminar werden theoretische Figuren rekonstruiert, die folgende Positionen und Punkte betreffen:

Erstens, die Opferposition: Analysiert werden Mechanismen wie „Blaming the Victim“ (Verantwortlichmachen des Opfers, Schuldzuweisungen, Stigmatisieren, Reviktimisieren) und Instrumentalisierung des Opferstatus (durch Idealisieren, Heroisieren, Purifizieren und Sakralisieren oder Selbststilisierung als Opfer) (F. Lamott 2009). Zudem geht es um „Identifizierung des Opfers mit dem Angreifer“ (A. Freud), Selbstbeschuldigung des Opfers und Introjektion von Täteranteilen seitens des Opfers, inklusive Scham- und Schuldgefühlen (M. Hirsch, M. Huber) sowie transgenerationelle Weitergabe des Opferstatus.

Zweitens, die Täterposition: Konstellationen wie situativ erzeugte Tötungsbereitschaft „ganz normaler Menschen“ (C. Browning, St. Kühl, H. Welzer), Täterschutz und -glorifizierung, „Tätertrauma“, post-atrocity Tätersymptome (J. Köhne) und generationenübergreifende Elemente von Täterschaft werden untersucht.

Drittens, metatheoretische Überlegungen: Es werden Theorien zu struktureller und „symbolischer Gewalt“ (P. Bourdieu) sowie über Herrschaftsinstrumente herangezogen. Mit Judith Butler und Michael Rothberg wird über „Implicatedness“ reflektiert, die von direkter Verantwortung, über komplexe Verwicklungen in Form von Ermöglichen von Gewaltakten beziehungsweise Dulden, Billigen oder Befürworten bis hin zu nicht bewusster Komplizenschaft reicht.

Viertens, Reflexion über Medialität: Anhand historischer Fallstudien (Archivmaterialien und historische Quellen wie Photographien, Interviews/Zeitzeug/innen-Berichte/Oral History oder fiktionale Epik) und (popkultureller) filmischer Artefakte (Dokumentationen, Spielfilme, TV- oder Internet-Serien, Internetauftritte etc.) fokussiert das Seminar auf ausgewählte Fallbeispiele. Besonderes Augenmerk wird dabei auf die mediale Verfasstheit des jeweiligen Untersuchungsgegenstands gerichtet. Die Form der medialen Präsentation regelt, wie Wissen über Täterhandeln und Gewaltopfer kommuniziert und rezipiert wird. Sie kann emotionalisierend und komplexitätsreduzierend wirken oder auch zu verwickelnden Deutungen anregen.

Bei den medialen Fallbeispielen geraten Einzeltäter, Serien- und Massenmörder sowie Täterkollektive (Personenverbünde, Gruppen oder Staaten) ebenso wie individuelle oder kollektive Gewaltopfer (durch Verfolgung, Missbrauch, Folter oder Vernichtung) ins Blickfeld. Ziel des Seminars ist es, durch Enttabuisierung und selbstreflexive Gewaltanalysen Prozesse der Idealisierung von Opfern ebenso wie jene der Dehumanisierung von Täter/innen („Barbar“, „Bestie“, „Dämon/Teufel“, „Monster“) zu erkennen sowie Leugnungs-, Relativierungs- und politische Appropriationstendenzen zu identifizieren.

Ausblickend soll zum einen diskutiert werden, inwiefern die Öffentlichkeit an diskursiven, ästhetischen und performativen Verfertigungen von Hierarchien und Machtasymmetrien mitwirkt, deren Übergang zu gewaltvoller – und juristisch relevanter – Täterschaft fließend sein kann (vgl. Mitwisserschaft, finanzielle oder politische Überstützung). Hierbei spielt die Sensibilität für Intersektionskategorien wie gender, race, class, age und disability eine bedeutsame Rolle. Zum anderen richtet sich das Interesse auf Ursachenforschung, Früherkennung von Gewaltbereitschaft sowie Prophylaxe/Prävention/Intervention beziehungsweise alternative gewaltfreie Konfliktlösungsstrategien (z.B. transformative und transitional justice oder das Narrativ des ‚Anderen‘ kennenlernen (S. Adwan/D. Bar-Ôn).

 *** Das Seminar findet im Zusammenspiel mit der multidisziplinären Tagung Opfer//Täter-Inversionen. Mediale Studien zu Täterhandeln und Gewalterfahrungen statt, die am Freitag, den 14. Juni 2019 (10–19:00), im Festsaal in der Luisenstraße (Berlin-Mitte) realisiert wird. Auf der Tagung werden historische und rezente Fallgeschichten (um 1900 bis 2010er Jahre) von Opfern und Täter/innen hinsichtlich ihrer medialen Repräsentation und Verhandlung diskutiert. Interessierte Studierende können hier als Mitdiskutant/innen und auf Wunsch als Moderator/innen und Tagungsrezensent/innen involviert werden.


Semester: Frühere Semester
Selbsteinschreibung (Teilnehmer/in)
Selbsteinschreibung (Teilnehmer/in)