Menschengemachte Prozesse prägen unsere Umwelt stärker als andere Kräfte. Man spricht von der geochronologischen Epoche des Anthropozän. Dieses Eingeständnis führt zu einer Neubewertung des Verhältnisses von Mensch und Umwelt. Die Musik artikuliert in vielfältiger Weise das Verhältnis des Menschen zur Natur und bietet einen Aushandlungsraum, in dem dieses Verhältnis anschaulich und sinnlich erfahrbar gemacht wird.
Die Realität des Anthropozän, die in der Zerstörung der Natur und im Klimawandel sichtbar wird, bringt methodische und konzeptionelle Herausforderungen für die Musikwissenschaft und die Sound Studies mit sich. Anstelle von Subjekt-Objekt- Beziehungen treten nun ökologische Systeme ins Blickfeld. Anstelle der Ermittlung von Kausalitäten und Strukturen fragt man nun nach der agency (Handlungsfähigkeit) natürlicher und technischer Akteure im Zeitalter geoklimatischer Vernetzungen. Künstlerische Projekte suchen die unfaßbaren Dimensionen der anthropozänen Gegenwart aufzurufen und ziehen neue musikwissenschaftliche Zugänge nach sich.
Die Vorlesung stellt diese methodischen Herausforderungen im Sinne einer erweiterten Anthropologie der Musik dar. Sie diskutiert darüber hinaus öko-musikologische und post-humanistische Ansätze und wendet sich ausgewählten künstlerischen Projekten zu, in denen diese Prozesse verarbeitet werden.
Literatur:
Adams, John Luther, The Place Where You Go To Listen. In Search of an Ecology of Music . With a foreword by Alex Ross, Middletown/Connecticut 2009.
Allen, Aaron S. and Kevin Dawe (eds.), Current Directions in Ecomusicology. Music, Culture, Nature . New York and London, 2016 (Routledge Research in Music, 13).
Böhme, Hartmut, „Natürlich/Natur“, in: Karlheinz Barck (Hrsg.), Ästhetische Grundbegriffe. Stuttgart und Weimar 2002, Bd. 4, S. 432-498.
Chakrabarty, Dipesh, “The Climate of History. Four Theses”, in: Critical Inquiry 35, no. 2 (2009), pp 197-222, siehe https://warwick.ac.uk/fac/arts/english/currentstudents/undergraduate/modules/literaturetheoryandtime/chakrabarty.pdf
Hart, Heidi, „Fossil Opera: Persephone in the Late Anthropocene“, in: dies., Music and the Environment In Dystopian Narrative. Sounding the Desaster . Cham 2018 (Palgrave Studies in Music and Literature), pp. 43-55.
Horn, Eva und Hannes Bergthaller, Anthropozän zur Einführung. Hamburg 2019.
Latour, Bruno and Peter Weibel (eds.). Critical Zones. The Science and Politics of Landing on Earth. ZKM Karlsruhe and the MIT Press. Cambridge/MA and London, 2020.
Renn, Jürgen und Bernd Scherer (Hrsg.), Das Anthropozän. Zum Stand der Dinge. Berlin 2015.
Steingo, Gavin, Interspecies Communication. Sound and Music beyond Humanity. Chicago 2024.
- Kursverantwortliche/r: Prof. Dr. Sebastian Klotz