Kurseinschreibung

‚Kolportageliteratur‘ (franz. col = Hals, Nacken; porter = tragen) ist ein schillernder Begriff. Er bezeichnet zum einen die gelieferte Literatur – von Zeitschriften über Gebrauchstexte wie Kinderlieder- oder Kochbücher bis hin zum Lieferungsroman –, die von Lieferanten, so genannten Kolporteuren, über die Hintertreppen gebracht oder auf der Straße verkauft wurde. Diese ‚umhergetragene‘ Literatur hatte ihre Blütezeit im Fin de Siècle, was die vielen Gründungen der Kolportage-Zeitschriften und -Vereine belegen, die sich der freieren Verbreitung der populären Texte mit ihren oft erotischen oder drastischen Inhalten und auffälligen Illustrationen verschrieben. Der Begriff der Kolportageliteratur bezeichnet zum anderen eine Kategorie der literarischen Wertung. Eine ‚Kolportage‘ meint dann einen ‚minderwertigen‘ und ‚trivialen‘ Text, dem vorgeworfen wird, verschiedene Stilrichtungen mit dem Ziel der Effekthascherei zu vermischen. Als Abwertung der solchermaßen ‚zusammengetragenen‘ Literatur hat sich der Begriff der Kolportage von seinen historischen und sozialen Kontexten gelöst und wird bis heute angeführt, um einem literarischen Text jeden Wert abzusprechen und ihn dem Vergessen anheim zu stellen.
Das SE behandelt beide Dimensionen der Kolportageliteratur und beleuchtet diesen schwer greifbaren Gegenstand aus mehreren Perspektiven: Ausgehend von der Lektüre einzelner Lieferungsromane (u.a. Karl Mays „Waldröschen“) und der Sichtung ausgewählter Kolportagezeitschriften aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert befassen wir uns mit den literatursoziologischen Bedingungen der Lieferungsliteratur. Neben ihrer Produktion, Rezeption und Vermittlung stehen insbesondere die Materialität und Intermedialität der Kolportageliteratur, ihre Komplizenschaft mit zeitgenössischen Filmen und Werbebildern, im Zentrum. Danach werden wir uns der Wertungskategorie zuwenden und nach den juristischen, ästhetischen und ethischen Diskursen um die Kolportage im 20. Jahrhundert fragen. Anstatt sie als jugendgefährdenden Schund zu verteufeln, wie viele zeitgenössische Intellektuellen, oder sie als Emanzipation der kleinen Leute zu feiern, wie das Gros der sozialgeschichtlichen Forschung der 1970er Jahre, wollen wir sie einer historischen, systematischen und kritischen Analyse unterziehen.

Semester: SoSe 2024
Selbsteinschreibung (Teilnehmer/in)
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