Schriften und mémoires von Häftlingen übernehmen verschiedene Funktionen innerhalb der Literaturgeschichte. Nicht nur dienen sie als Quellenmaterial für Wissenschaften wie Kriminalistik, Anthropologie, Soziologie und Psychiatrie, sondern ermöglichen als literarische Dokumente, die teilweise fiktionale Erzählungen generieren, auch eine Auseinandersetzung mit Fragen der behördlichen Identifikation, der institutionellen Gewalt, der Bestrafung, der Ausgrenzung und der körperlichen Immobilisierung. Als literarische Doppelgänger der eingesperrten Häftlinge überschreiten ihre Schriften räumliche und zeitliche Grenzen und werden nicht selten zu Werkzeugen, die die verlorene Freizügigkeit zurückgewinnen lassen, die eigene Stimme auch draußen hörbar machen oder ein Wissen über Praktiken des Durchhaltens und Techniken des Ausbruchs weitergeben.
Nach den ersten einführenden Sitzungen, in der wir uns mit den diskursanalytischen Überlegungen Michel Foucaults (Surveiller et punir. Naissance de la prison, 1975) auseinandersetzen, widmet sich das Seminar zunächst den Memoiren von Abenteurern und Libertins aus dem 18. und 19. Jahrhundert wie Giacomo Casanovas Histoire de ma fuite de Prison de la République de Venise (1788) oder Eugène-François Vidocqs Mémoires de Vidocq, chef de la police de Sûreté (1828–1829). In einem zweiten Schritt werden Romane des 19. Jahrhunderts in den Blick genommen, die derartige autobiographische Erzählungen in die Fiktion einfließen lassen: Honoré de Balzacs Splendeurs et misères des courtisanes (1838–1847); Stendhals La Chartreuse de Parme (1839); Alexandre Dumas: Le Comte de Monte-Cristo (1844). In einem dritten Schritt widmet sich das Seminar literarischen Texten der Moderne, in denen die Gefangenschaft als Selbsterlebnis poetisch reflektiert wird: Paul Verlaines Gedichtsammlung Cellulairement (1874–1875); Jean Genets Roman Miracle de la rose (1946); und Albertine Sarrazins Roman L'Astragale (1965).
Durch die Lektüre und die Diskussion von ausgewählten Textauszügen wird der Fokus des Seminars auf verschiedenen Fragen gerichtet: Wie wird die behördliche, körperliche, psychische Identität der Häftlinge fremd- und selbstbestimmt? Welche medizinischen, anthropologischen, kriminalistischen Kategorien werden in diesen écrits de prison sichtbar? Wie werden die Grenzen zwischen Normalität und Abnormität, Heldentum und Monstrosität im Medium der Literatur verhandelt? Wie schreibt das vermeintlich ›gefährliche Individuum‹ (Foucault) über sich selbst, über die Mitinhaftierten sowie die Institution des Gefängnisses?
- Kursverantwortliche/r: Maddalena Casarini