Kurseinschreibung

Die Genealogie des Kinos ist eine verzweigte Angelegenheit. Sie kann zum einen als Geschichte der technischen Apparatur geschrieben werden, die nach Alexander Kluge durch die Kopplung dreier Maschinen entsteht: einer photographischen zur seriellen Bildaufnahme und -projektion, einer theatralen zur Herstellung einer Öffentlichkeit nach dem Muster von "Oper, Theater, Jahrmarkt, Raritätenkabinetten, Panoramen, Weltausstellungen und Zirkus" sowie einer ökonomischen, die nach dem Modell der "Penny-Arkaden" gegen kleines Geld den Blick "durch ein Guckloch in eine fremde Welt" automatengesteuert freigibt ('Geschichten vom Kino', 2007).

Zu jener äußeren Apparatur tritt eine innere hinzu, deren Voraussetzungen viel weiter zurückreichen als ins 19. Jahrhundert. Jörg Jochen Berns hat sie unter dem Begriff "Praecinematik" bis in die Vormoderne zurückverfolgt und mit der pneumatisch-spirituellen, psychagogischen Seite des bewegten inneren Bildes, der imago agens, verknüpft. Frühe Theoretiker des Films empfanden daher einen Déjà-vu-Effekt; sie erkannten in der Kinematographie eine technische Verstärkung archaischer Formen der Psychagogie: Hugo Münsterberg sah in seinem Essay 'Das Lichtspiel' (1916) durch Trickbild und Großaufnahme die affektischen Wirkungsmöglichkeiten des Wunders aktualisiert. Als moderne Institution des Mirakels zeigt das Kino, was sonst nicht zu sehen oder zu erfahren wäre, als gehöre es ebenso selbstverständlich wie irritierend ins Wahrnehmungsfeld des Publikums. Robert Musil sprach von der "Vermutung eines andren, apokryphen Zusammenhangs",  in den die Dinge eingehen, wenn sie, "aus ihrer gewohnten Umrahmung" herausgelöst, in den Stummfilm gelangen und "in der Stille des Bilds" vor den Augen der Zuschauer ihr "symbolisches Gesicht" neben den Physiognomien der Schauspielerinnen und Schauspieler ausstellen. Darin zeichne sich "ein andres Verhalten zur Welt" ab: eine "Mystik des Films" oder "eine Brücke, die vom festen Boden sich so wegwölbt, als besäß sie im Imaginären ein Widerlager" ('Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films', 1925).

Kein Wunder also, dass der moderne Film – vom Stummfilm bis zum Blockbuster – Erzähl- und Denkmuster aufgreift, die aus den Kontexten vormoderner Wahrnehmungspsychologie und Spiritualität stammen. Ins Bewegtbild umgesetzt, besitzen sie das Potential, im Sinne einer "taghellen" (Musil) oder "gottlosen" Mystik (Mauthner) religiöse Vorstellungen zu aktivieren, zu revidieren, zu konterkarieren oder zu durchbrechen: wie es apokryphe Formen gegenüber dem Maßstab des Kanons tun.

Die Vorlesung wird das an einer Reihe von Beispielen vorführen: etwa an einer Folge von Filmen, die von  'Blade Runner 2049' (Denis Villeneuve), 'Blade Runner' (Ridley Scott 1982), 'Metropolis' (Fritz Lang 1927) und 'Das Mirakel' (Karl Vollmoeller 1912) ins 13. Jhd. Zu Caesarius von Heisterbach führt, oder an den Familienähnlichkeiten zwischen dem 'Schatz der Sierra Madre' (John Huston, 1947), 'Pulp Fiction' (Quentin Tarantino, 1994) und 'No Country for Old Men' (Ethan und Joel Coen, 2007), die über Hans Sachs und Geoffrey Chaucer ihren gemeinsamen vormodernen Kern zu erkennen geben. Darüber hinaus werden junge Berliner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einzelne Filme unter den genannten und eigenen Aspekten vorstellen und interpretieren. Unmittelbar nach Semesterende besteht für alle Teilnehmenden die Möglichkeit, ihre Interessen im Rahmen eines von Richard Faber und mir organiserten internationalen Symposions an der HU zum gleichen Thema zu vertiefen, so dass ein umfassender Einblick in ein junges Arbeitsfeld der Mediävistik möglich wird: die Neubestimmung von Mittelalterrezeption als Form medialer Transformation des bewegten Bildes.


Semester: SoSe 2023
Selbsteinschreibung (Teilnehmer/in)
Selbsteinschreibung (Teilnehmer/in)