„Ich kann ein Bild davon zeichnen, wie Zwei miteinander fechten, aber doch nicht davon, wie Zwei miteinander nicht fechten [...]“ (Ludwig Wittgenstein). Wie bereits Wittgenstein zu zeigen vermochte, stellt die Negation ein anschauungsfernes Phänomen dar. Bilder können nicht verneinen und Negationen können bildliche Darstellung nicht aufheben. Die sprachlichen Bildwelten der Literatur bedienen sich der Negation allerdings sehr wohl und zwar auf besonders virtuose Weise.
Mit der Frage der Verneinung steht in der Literatur des 19. Jahrhunderts jedoch mehr als nur die Anschaulichkeit literarischer Fiktion zur Debatte. Spätestens seit Hegels Dialektik von Herr und Knecht sind mit ihr immer auch Fragen der Herrschaftsform und damit die Horizonte gesellschaftlicher Transformation adressiert. Für die Literatur lässt sich das Problem der Verneinung als Suche nach einer Darstellungsform beschreiben, in der die nach Anerkennung und Emanzipation verlangenden sozialen Kräfte zur Sprache kommen sollen. Die Literatur des Realismus verfolgt jedoch auch die in Richtung von Hass, Destruktion und Autoaggression führenden Abwärtsspiralen jenes Kampfes um Anerkennung. Dort nämlich, wo die Möglichkeit des Neinsagens schwindet und die negativen Affekte ihre soziale Form verlieren, wenden sich die Negationsimpulse nach innen. Sie münden in Realitätsverlust und ‚Verneinungswahn‘, wie eine Diagnose der zeitgenössischen Psychiatrie lautet, oder sedimentieren sich im Ressentiment. Die Frage nach der Verneinung ist deshalb auch die Frage nach den Formen der Diskriminierung und Menschenfeindlichkeit, nach Antisemitismus und Antifeminismus.
Die Vorlesung sondiert neuere theoretische Impulse zu literarischen Negationspraktiken auf einem historischen Parcours, der von Goethes Mephisto als dem „Geist, der stets verneint“ bis zu Brechts Neinsager (1930) führt. Neben Hermann Melvilles Bartleby, the Scrivener (1853) mit seiner notorischen Formel „I would prefer not to“ und vergleichbaren Figuren des Streiks oder des Ungehorsams bei Georg Weerth, Gustav Freytag, Fanny Lewald oder Marie von Ebner-Eschenbach kommen mit Texten Adalbert Stifters oder Paul Heyses auch ikonoklastische Motive in den Blick, welche die negativen Sprechakte gegen die fiktionale Darstellung selbst wenden. Der literarischen Verneinung – so soll sich zeigen – wohnt eine Dynamik inne, welche die Geschlossenheit der Repräsentationen strukturell suspendiert. In ihren Negationen verwalten literarische Texte ein Reservoir der Zurückweisung jener sozialen Fiktionen, die sie selbst produzieren.
- Kursverantwortliche/r: Maximilian Dazert
- Kursverantwortliche/r: Dr. Roman Widder