Die Geschichte der menschlichen Leidenschaften muss seit dem 19.
Jahrhundert eine erstaunliche Innovation verzeichnen. Denn sowohl in der
Literatur wie in den entstehenden Humanwissenschaften stößt man nun auf
die Beschreibung von seltsamen Neigungen, die sich von älteren
Passionen und Affekten dadurch unterschieden, dass sich in ihnen eine
fatale ‚Verletzung der Willenskraft‘ manifestiert und zu ganz und gar
unverständlichen Aktionen führt. Diese Regungen sind durch
‚unwiderstehliche‘, ‚unerbittliche‘ und ‚unheilvolle‘ Dynamiken
charakterisiert und haben schließlich den Titel ‚Triebe‘ erhalten. Von
der Formierung psychiatrischer und forensischer Wissensgebiete bis zur
Entfaltung psychoanalytischer Theorie haben sich diese Triebe als neuer
und kritischer Faktor in der Funktionsweise moderner Subjekte erwiesen,
und gerade die Literatur – die romantische Novelle ebenso wie der
naturalistische Roman – hat ihnen einen weitläufigen Schauplatz geboten.
Das SE wird sich also der Entdeckung und dem anthropologischen
Experimentierfeld des Triebhaften und der unbewussten Triebregungen
widmen und neben literarischen Quellen auch einschlägige
wissenschaftliche Quellen von der Psychiatrie in der ersten Hälfte des
19. Jahrhunderts bis zur Freud’schen Psychoanalyse verhandeln.