Kurseinschreibung

Urbanitas bezeichnet eine Lebensform, die zunächst an den Raum der Stadt gebunden zu sein scheint. Sie erfasst ebenso alle Bereiche des praktischen Denkens und Handelns (Ethik, Ökonomik, Politik) wie die religiösen Praktiken, die das Verhältnis der göttlichen und der menschlichen Angelegenheiten verbindlich regeln und im Gleichgewicht halten sollen. Mit einem derartig soziologisch geprägten Verständnis von Urbanität werden vor allem Phänomene erster Ordnung über das Zusammenleben in städtisch verdichteter communitas erfasst. Die Fülle jener Lebensform wird aber erst dann kenntlich und beschreibbar, wenn eine Beobachtung zweiter Ordnung hinzutritt. Sie kommt zur Geltung, sobald das Städtische um die Dimension der Sprachpraxis, zumal des rhetorisch geformten Sprachhandelns unter den Bedingungen der Redefreiheit (parrhesia) ergänzt wird. Dadurch transformiert die Stadt in ein kommunikatives System und setzt ihre Urbanität frei. Dessen Akteure erkennen sich an ihrer Konsensfähigkeit, die wiederum daran gebunden ist, dass Gestus und Rede von gedanklicher Beweglichkeit, gewitzter Pointiertheit und situationsangemessener Haltung der Sprecher zeugen. Solche Verlagerung des Städtischen in einen wesentlich am Sprachgebaren zutage tretenden Habitus hat einen Effekt, der im Mittelpunkt der Seminarlektüren stehen soll: Die urbanitas wird – wie das Wort und die Metapher selbst – mobil, ihre Kommunikationsform vom Stadtraum entkoppelt und transportabel. In Schrift gefasst emanzipiert sie sich von der leiblichen Präsenz der Sprechenden. Im Extremfall kann Urbanität so bis in die äußersten Winkel der Antoikumene, die Wüste, vordringen. Das zeigt sich beispielhaft in der spätantiken und mittelalterlichen Formation der ecclesia. Sie imaginiert und entwirft ihre Ausbreitung als Konsensgemeinschaft in paradoxer Weise gerade unter den Bedingungen der Vereinzelung, Entfremdung und sozialen Exklusion: über die Reiseberichte der Apostelgeschichte und daran anschließender apokrypher Apostelviten, über Märtyrerakten und Eremitenlegenden. So werden selbst Welt- und Sprachflucht zu Phänomenen einer innerkirchlichen urbanitas umgewertet. Vor diesem Hintergrund soll ein literarisches Doppelwerk betrachtet werden, das gegen Ende des 13. Jahrhunderts die Traditionen monastischer Andacht auf Basis der 'Vitas Patrum' (Wüstenväterlegenden) bzw. der 'Legenda Aurea' aufnimmt und mit geradezu enzyklopädischem Anspruch in die Volkssprache (als Sprache der Stadt und des Hofes) überträgt: das 'Väterbuch' und das 'Passional'. Beide bilden ohne explizite Autornennung und eindeutige institutionelle Zuordnung eine Einheit. Aufgrund stilistischer Verwandtschaft können sie einem einzigen Dichter zugeschrieben werden, der es dann auf ein Riesenwerk von zusammengenommen rund 150.000 Versen gebracht hätte. Jenseits ihrer schieren Quantität und Extension entwickelt jene Dichtung eine eigene konzeptionelle Qualität und Intensität, die im 13. Jahrhundert als urbanes Dispositiv religiöser Rede verstanden werden konnte. Mit dessen Rekonstruktion arbeitet das Seminar an der literatur- und kulturwissenschaftlichen Weiterung eines richtungsweisenden  aktuellen Forschungszusammenhangs der Patristik und Religionswissenschaft (DFG Kolleg-Forschungsgruppe 'Religion und Urbanität', Max-Weber-Kolleg, Erfurt, Susanne Rau / Jörg Rüpke) sowie an einem innerliterarisch entwickelten Modell vormoderner Netzwerkbildung und ihren religiösen Implikationen.

 

Lit.: Alexander Friedrich: Metaphorologie der Vernetzung. Zur Theorie kultureller Leitmetaphern, Paderborn 2015.


Semester: SoSe 2022
Selbsteinschreibung (Teilnehmer/in)
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