Dramen stehen in einem eigentümlichen Spannungsfeld zwischen Literatur
und Theater. Sie lassen sich als Text lesen, sind aber – in der Regel –
für die Aufführung gedacht. So hat das Drama seinen festen Platz gleich
in zwei Disziplinen, den Literaturwissenschaften und den
Theaterwissenschaften, die je eigene Schwerpunkte in ihrer Beschäftigung
mit ihm setzen.
Bei der Oper, einem Sonderfall des Dramatischen,
scheinen die Dinge komplizierter zu sein. Das erkennt man schon am
Sprachgebrauch: Vom ,Theaterstück‘ kann sowohl in Bezug auf den Text als
auch auf die Aufführung die Rede sein; bei der Oper unterscheidet man
dagegen meist den Text vom musiktheatralischen Endprodukt; für den
Textteil gibt es eigene Namen wie ,Libretto‘ oder ,Textbuch‘. Ein Grund
für diese Unterscheidung liegt darin, dass ein Drama üblicherweise
eine*n Autor*in hat, während Opern meist das Ergebnis einer mal mehr,
mal weniger gleichberechtigten Arbeitsgemeinschaft von Textdichter*innen
und Komponist*innen sind.
Die Literaturwissenschaften haben sich
daher lange damit schwergetan, Libretti als Untersuchungsgegenstand in
den Blick zu nehmen. Auch das scheinbare Übergewicht der Musik, für die
der Text mehr oder weniger nur das Vehikel sei, hat eine ernsthafte
Auseinandersetzung mit dieser Textsorte lange verhindert. Erst in den
letzten Jahrzehnten hat sich darum mit der Librettologie eine eigene
Fachrichtung herausgebildet, die Texte für Opern als literarische Werke
betrachtet.
Diesem Zugang will das SE folgen und in einem Gang vom
späten 18. bis ins 21. Jahrhundert verschiedene Libretti vorstellen, zum
Beispiel Christoph Martin Wielands Alceste, Adelheid Wettes Hänsel und Gretel oder Christian Lehnerts Phaedra.
Im Mittelpunkt soll die Lektüre der jeweiligen Texte stehen; zugleich
spielen aber auch methodische und theoretische Fragen eine Rolle: Welche
Besonderheiten weist diese Gattung auf, was ist bei ihrer Analyse zu
beachten, welche Entwicklungen lassen sich innerhalb der untersuchten
zweieinhalb Jahrhunderte feststellen?
Mit der Teilnahme am SE wird
die Übernahme eines kurzen Referats (allein oder in kleinen Gruppen)
verbunden sein, das in eine unserer Lektüren einführen und erste Akzente
für die Seminardiskussion setzen soll. Musikwissenschaftliche
Kenntnisse sind willkommen, bilden aber keine Voraussetzung, um
mitzumachen. Eine Literaturliste folgt zu Vorlesungsbeginn.
- Kursverantwortliche/r: Johannes Schmidt