Kurseinschreibung

Modernisierung, Industrialisierung und Politisierung sowie die Nationalstaatengründungen brachten im 19. Jahrhundert neue Versammlungs- und Gestaltungsformen von politischen Menschengruppen hervor, wie revolutionäre Massen- und Arbeiteraufläufe, Demonstrationen, Streiks, Kongresse, Parteibewegungen und Interessensverbände. In der Massenpsychologie wurden Menschenmassen mit diesen Attributen und Konzepten verknüpft: Heterogenität, Diffusität, Unkontrollierbarkeit, Intellektgehemmtheit und Affektbetontheit, Suggestibilität, Simulations- und Täuschungsaffinität, „Massenseele“ und strukturale Femininität. Stereotypisierungen und abwertende Weiblichkeitsbilder sollten die ambivalenten Aspekte der Masse unterstreichen.

In der Theoriegeschichte wurde die Masse einerseits als ungeordnet, chaotisch und zerfallend, panik- und verbrechensnah, aufrührerisch und rebellisch, andererseits als formbar und demokratisierbar wahrgenommen. Die Rede vom „Zeitalter der Massen“ (S. Moscovici) beinhaltet sowohl bedrohliche als auch heilbringende und regenerative Elemente. Fragen, die die konservativen Gegner des ‚Aufstehens der Masse‘ ängstlich, die sozialdemokratischen Denkergemüter jedoch freudig stimmten, lauten: Kann sich die Masse emanzipieren und zu einem ‚Subjekt abendländischer Bauart‘ entwickeln? Ist sie in der Lage, zu einer politischen souveränen Macht zu werden, die die Qualität besitzt, den Lauf von Geschichte zu ändern? Wie würde eine zum Subjekt ermächtigte Masse auf der politischen Bühne agieren? Welche neuen Formen (anonymer) Kollektivität brachten neue Massenmedien wie Printmedien, Rundfunk und Film hervor?

Ausgehend vom Theoriesetting Mitte der 1870er bis in die 1920er Jahre, das Schriften von H. Taine, S. Sighele, G. Tarde, H. Fournial, G. Le Bon, M. Weber, S. Freud und S. Kracauer umfasst, werden im Einführungsseminar theoretische Strukturelemente der Masse erarbeitet. Dabei spielt die Kritik der imaginativen Koppelung von Masse mit weiblicher „Hysterie“ im zivilen Rahmen sowie mir männlicher „Kriegshysterie“ im Ersten Weltkrieg eine besondere Rolle. Der Textkorpus wird in einem zweiten Schritt um Schriften aus einem späteren sozialpsychologischen und kulturtheoretischen Theoriesegment erweitert: E. Canetti, K. Theweleit, S. Moscovici, U. Gerhard, Th. Macho, B. Widdig, G.L. Mosse, U.C. Schmidt, P. Sloterdijk, K. Kenkel, C. v. Braun und D. Dornhof.

Parallel zur Ebene theoretischer Konzepte und sprachlicher Bilder wurden Menschenansammlungen auch auf (audio-)visueller Ebene imaginiert. Neben Zeichnung und Photographie lieferte der frühe Spielfilm neue Formen der Visualisierung der „Masse“ und ihr zugeschriebener Eigenarten und Problematiken – in Spannung zum Individualsubjekt. Das multidisziplinär ausgerichtete Seminar verdeutlicht dies anhand ausgewählter bildmedialer Repräsentationen, die auch in heutigen Medienkulturen diskursbestimmend sind – in Zeiten so genannter ‚Einwanderungswellen‘, von Massenerlebnissen in Fußballstadien (H.U. Gumbrecht), Massenpaniken (Duisburger Loveparade), Angriffen des ‚rechtradikalen Mobs‘ (Sturm aufs Kapitol in Washington), von Gruppen- und Schwarmintelligenzen sowie digitaler Vernetzungskulturen und sozialer Medien (R. Reichert). En passant sollen Fertigkeiten des akademischen und besonders kulturwissenschaftlichen Arbeitens eingeübt werden (u.a. Referat, Thesenpapier, Protokoll, Seminararbeit).

Prüfung:

Seminararbeit, Referatsverschriftlichung, multimediale Prüfung (z.B. Podcast, Dokumentation)

Semester: SoSe 2021
Selbsteinschreibung (Teilnehmer/in)
Selbsteinschreibung (Teilnehmer/in)