Das Seminar wendet sich diesem dunklen Kapitel deutscher Geschichte mit der Frage zu, wie Geschichtsschreibung ‚funktioniert‘ und welche Bedeutung ihr im Prozess nationaler und individueller Identitätsbildung zukommt. Als Leitfaden dient uns Uwe Timms postkolonialer Roman Morenga (1978), der wie der titelgebende Name des Rebellen-Führers Jakobus Marengo (um 1875-1907) anzeigt, in dem damaligen „Schutzgebiet“ Südwestafrika, spielt und genau in die Zeit des Völkermordes an den Herero und Nama fällt.

Timm bedient sich dabei eines Montageverfahrens, das auf historische Dokumente – Briefe, Akten, Anordnungen, Bekanntmachungen und Berichte – zurückgreift und mit fiktiven Elementen Aufzeichnungen durchsetzt; die Montage wird somit zu einer Reise durch das Archivmaterial deutscher Kolonialgeschichte, mit dem der O-Ton einer kolonialen Sprachselbstverständlichkeit hörbar wird. In dem Aufeinandertreffen und der Verschmelzung historischer Dokumente und fiktiver Aufzeichnungen wird der Roman zugleich zu einer sammelnden Aneignung eigener Art, die De- und Rekontextualisierungen literarisch vorführt und mit ihnen über die Bedingungen der Möglichkeit von Faktizität, Geschichtsschreibung und -erzählung reflektiert.

Das Seminar startet mit einem Blick auf koloniale Sammlungen und Archivmaterial wie die Akten des Reichskolonialamtes im heutigen Bundesarchiv (Berlin Lichterfelde), das auch Timm in seinem Roman auswertete. In einem zweiten Teil stehen theoretische Ansätze zum einen der colonial studies und ihre Analyseinstrumente wie „kontrapunktische Lektüre“, „third space“, „mimikry“ oder „remapping“ im Zentrum, zum anderen das Konzept der „historiografischen Metafiktion“ und die Frage nach der Grenze zwischen Fiktion und Geschichtsschreibung. Ein Hauptfokus in der Auseinandersetzung mit Timms Roman wird in einem dritten Teil auf den praktizierten Kontextualisierungs- und Dekontextualisierungsprozessen liegen, die wir als Bedingung der (Un)Möglichkeit von Geschichtsschreibung untersuchen wollen.

Die Lektüre des Romans wird vorausgesetzt, weitere Materialien werden über Moodle und einen Seminarapparat im Grimm Zentrum bereit gestellt.

Literatur (Auswahl): Timm, Uwe: Morenga, München [EA 1978]; Timm, Uwe: Deutsche Kolonien, München 1981 [Fotoband]; Timm, Uwe: Von Anfang und Ende. Über die Lesbarkeit der Welt. Frankfurter Poetikvorlesung, Köln 2009 // Almstadt, Esther: Realität und Fiktion in Uwe Timms Roman Morenga, Baden-Baden 2013; Bühler, Heinrich Andreas: Der Namaaufstand gegen die deutsche Kolonialherrschaft in Namibia von 1904-1913, Frankfurt a. M. 2003; Deutsches historisches Museum (Hg.): Deutscher Kolonialsmus – Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart, Darmstadt 2016 [Ausstellungskatalog]; Dürbeck, Gabriele / Dunker, Axel (Hg.): Postkoloniale Germanistik: Bestandsaufnahme, theoretische Perspektiven, Lektüren, Bielefeld 2014; Nünning, Ansgar: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion, Trier 1995; Ridley, Hugh: „Die Geschichte gegen den Strich lesend: Uwe Timms Morenga, in: Anne Fuchs / Theo Harden (Hg.): Reisen im Diskurs. Modelle der literarischen Fremderfahrung von den Pilgerberichten bis zur Postmoderne, Heidelberg 1995, 358-373; Volkmann, Christian: Geschichte oder Geschichten? Literarische Historiographie am Beispiel von Adam Scharrers Vaterlandslose Gesellen und Uwe Timms Morenga, Hamburg 2013.


Semester: WiSe 2020/21