„Leben? oder Theater?“ steht auf dem Rücken einer Frau, wie eingraviert. Es ist das letzte Blatt einer über 1300 Blätter umfassenden monumental gemalten Autobiographie der jungen Berliner Malerin Charlotte Salomon, Jüdin, 1938 nach Südfrankreich emigriert, 1943 von Nizza nach Ausschwitz deportiert und dort ermordet. Ihr Werk, an dem sie bis kurz vor ihrer Deportation arbeitete, hat überlebt.

Leben? oder Theater? ist formal und inhaltlich komplex und in seiner Art einzigartig: eine frühe graphic novel, eine gemalte Autobiographie (oder Autofiction), ein „Singspiel“, das sich, folgt man den integrierten Musik- und Gesanghinweisen, beim Blättern der Seiten im Kopf der Leserinnen und Leser entfaltet, eine Reminiszenz an den frühen Film, ein (Orpheus-)Mythos, ein Gesamtkunstwerk. Es mischt Medien, Genres und Stile, ist Geschichtsschreibung und zugleich Fiktion, ist unmittelbarer Ausdruck und zugleich poetologische Reflexion auf Identität, Tod, Liebe und (weibliche) Künstlerschaft.

Als Einstieg in die Auseinandersetzung mit dem Werk werden wir uns zunächst der intermedialen Struktur zuwenden, bestimmen Aspekte der sich verwebenden Genres (graphic novel, Einbildgeschichten, Autobiographie/-fiction, Drehbuch, Singspiel, Gesamtkunstwerk) und untersuchen exemplarisch Text-Bild-Liedverhältnisse an ausgewählten Einzelblättern. Ein besonderes Augenmerk in der formalen Analyse liegt dabei auf der spezifischen seriellen und sammelnden Gestaltung des Werkes. Auf der narrativen Ebene wird es vor allem um die Gestaltung des Orpheus-Mythos gehen, in dessen variantenreichem, Rollen und Geschlechter wechselnden Umschreiben und Überschreiben sich eine weibliche Künstleridentität emanzipiert.

Die Originale von Leben? Oder Theater? werden im Jüdischen Museum Amsterdam aufbewahrt. Auf der Webseite (https://jck.nl/nl/page/judisches-kulturelles-viertel) stehen den Nutzern eine vollständige Digitalisierung aller Blätter, Skizzen und Vorstufen zur Verfügung, im Archiv ist darüber hinaus vor Ort eine Fülle an weiteren Dokumenten (Filme, Fotographien, Musikmaterial) zugänglich. Eine kleinere Auswahl an Dokumenten rund um Leben und Werk von Charlotte Salomon findet sich auch im Archiv des Jüdischen Museums Berlin. Druckausgaben von Leben? Oder Theater? können antiquarisch günstig erstanden werden.

Literatur (Auswahl): Charlotte Salomon: Leben? Oder Theater? Ein autobiografisches Singspiel in 769 Bildern, Hg. Judith Herzberg, Köln 1981 (oder eine andere vollständige Ausgabe) // Fischer-Defoy, Christine (Hg.): Charlotte Salomon. Leben oder Theater? Das Lebensbild einer jüdischen Malerin aus Berlin 1917–1943. Bilder und Spuren, Notizen, Gespräche, Dokumente Berlin 1986; Friedrich, Annegret: „Zum Künstlermythos bei Charlotte Salomon“, in: Frauen, Kunst, Wissenschaft, Sonderheft, 1997, 37-47; Koch, Gertrud: „Bilderverbot als Herkunftsmetapher. Zu Charlotte Salomons Buch ‚Leben oder Theater?‘“, in: Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart, 12, 1993, 58-74; Lowenthal Felstiner, Mary: To paint her life: Charlotte Salomon in the Nazi Era, New York 1994; Schmetterling, Astrid: Charlotte Salomon 1917-1943. Bilder eines Lebens, Frankfurt a. M. 2001; Schmidt, Sarah: „Die Masken des Orpheus oder wie man in die Unterwelt steigt, um am Leben zu bleiben. Überlegungen zu dem intermedialen Bilderwerk Leben? oder Theater? von Charlotte Salomon“, in: Kultur und Gespenster 7 (2008), 177-189; Steinberg, Michael P. / Bohm-Duchen, Monica (Hg.): Reading Charlotte Salomon, Ithaca und London 2006.


Semester: WiSe 2020/21