Auch wenn dem modernen „Literatur“-Begriff die Buchstäblichkeit gedruckter Lettern – „litterae“ – direkt eingeschrieben ist, sind Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der Geschichte dieser Literatur nicht einfach Prämissen unterschiedlicher Kulturen oder Epochen, die einander ablösten. Zur selben Zeit, als im 18. Jahrhundert die Verbreitung der Schriftkultur dank expandierendem Buchmarkt und voranschreitender Alphabetisierung stetig zunimmt, kommt ein neues ästhetisches Interesse an Ton und Klang der Stimme auf, und die Mündlichkeit macht eine zweite Karriere, jetzt unter den Bedingungen von Schrift und Druck. – Das SE wird untersuchen, wie Stimme und Schrift hier miteinander interagieren und sich zugleich gegeneinander ausdifferenzieren. So werden wir einerseits nach den Möglichkeiten der schriftlichen Mimikry ans Mündliche fragen, andererseits nach Zugzwängen zur Anpassung des Sprechens an die Norm der Schrift und nach Pathologisierungen bzw. Exotisierungen von Abweichungen: etwa bei Hemmungen wie dem Stottern oder Eigentümlichkeiten von Soziolekten und fremdsprachlichen Einfärbungen. Verfolgt werden soll entlang von Beispielen (Johann Gottfried Herder, Friedrich Nicolai, Heinrich von Kleist, Georg Büchner, Johann Nestroy, Arno Holz/Johannes Schlaf, Lewis Carroll, George Bernard Shaw, Emine Sevgi Özdamar, Yoko Tawada) dabei zugleich, wie die Literatur durch die polyphone Integration dieser Stimmen ihre poetische Lizenz zur Anders-Sprachigkeit sowohl in der Lyrik wie in prosaischen Genres reaktualisiert und damit neue Quellen der Komik wie der Tragik für sich erschließt.

Das SE wird in einer Mischung aus synchronen und asynchronen Elementen durchgeführt. Vorgesehen sind wöchentliche Zoom-Sitzungen.

Semester: WiSe 2020/21