In seinem Roman Der Zauberberg läßt Thomas Mann den Protagonisten Hans Castorp sagen: „Es wäre gut, wenn außer dem
lyrischen […], dem künstlerischen Verhältnis noch ein anderes vorhanden wäre, wenn man die Dinge, kurz gesagt, noch unter
einem anderen Gesichtswinkel auffaßte, zum Beispiel dem medizinischen.“
Das Seminar versucht anhand einiger charakteristischer historischer Schnittstellen das Verhältnis medizinisch-naturkundlicher
Diskurse zur Formation kultureller Tatsachen nachzuzeichnen. So werden wir im Verlauf die Beziehungen von Anatomie und
Taxonomie, Physiologie und Normativität, Vererbung und Erbe, von Psychiatrie und Ästhetik sowie Neurowissenschaft und
Erkenntnistheorie in den Blick nehmen. Auf diese Weise werden Bedingtheiten physischer menschlicher Existenz als Fluchtlinien
deutlich, deren experimentelle Überschreitung sie immer aufs neue in kulturelle Formationen eingeschrieben hat. Dabei werden
wir wissenschaftsgeschichtliche Methoden als ein Instrument der Kulturwissenschaft anzuwenden versuchen. Aus aktuellem Anlaß richten wir den Blick auch auf Seuchen und Infektionskrankheiten, die man beginnt, seit dem 19. Jahrhundert systematisch zu erforschen und zu bekämpfen.
Literatur zur ersten Orientierung:
Canguilhem, Georges: Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie Frankfurt am Main 1979; Ders.: Das Normale und das
Pathologische Frankfurt am Main-Berlin-Wien 1977; Gonzales-Crussi, Frank: Verbotene Blicke, schamloses Sehen. Das Auge und
die Welt Berlin 2007; Hagner, Michael (Hg.): Ansichten der Wissenschaftsgeschichte Frankfurt am Main 2001; Ders. (Hg.): Ecce
Cortex. Beiträge zur Geschichte des modernen Gehirns Göttingen 1999; Kittler, Friedrich A.: Draculas Vermächtnis In: Ders.:
Draculas Vermächtnis. Technische Schriften Leipzig 1993; Mayer-Staineg / Sudhoff, Karl: Illustrierte Geschichte der Medizin
München 5. Aufl. 2006; Scharbert, Gerhard: Dichterwahn. Über die Pathologisierung von Modernität München 2010


Semester: WiSe 2020/21