„Rec. muß gestehen, daß er unter allen Bürger’schen Gedichten […] beinahe keines zu nennen weiß, das ihm einen durchaus reinen, durch gar kein Mißfallen erkauften Genuß gewährt hätte.“ Die Rhetorik der Literaturkritik vergangener Jahrhunderte und ihre Formate muten auf den ersten (Rück-)Blick ebenso fremd an wie der literarische Markt, auf dem sie und die Objekte ihres Ge- und Missfallens kursierten, seine Rituale, Organe, Fronten und Verwerfungen, die Kritiker(Innen)typen mitsamt ihren Kriterien, Missionen und Netzwerken. 
Wenngleich es immer literarische Werke zu geben scheint, deren größtes Verdienst darin besteht, so schlecht zu sein, dass sie zu guten Verrissen Anlass geben – die Klage über das Verschwinden des Verrisses ist so alt wie dieser selbst. Ungeachtet dieser Abgesänge und Totenklagen – und vieler Metamorphosen – scheint der Verriss noch heute quicklebendig. Zudem lassen sich an seinen wechselnden Erscheinungsformen literarhistorische und epistemologische Verflechtungen und Paradigmenwechsel nachvollziehen, die es wiederum in die Diskurs- und Epochenkontexte einzubetten gilt, welche die Polemik genährt und das streitlustige Genre am Leben erhalten haben.
Gegenstand des Seminars sind Selbstreflexionen von KritikerInnen dreier Jahrhunderte ebenso wie spektakuläre Verrisse, ihre jeweilige Rhetorik, Form und Funktion, von Schillers Bürgerrezension bis zur Filetierung D. Grünbeins durch F. J. Czernin – und darüber hinaus bis heute. Im historischen Aufriss wird auch den Medien und Strategien ihrer Publikation Rechnung zu tragen sein. Zentrale Fragen lauten: Welche Wissenskulturen, Literatur- und Autorschaftskonzepte liegen den Scharmützeln zu Grunde, welche Potentiale und Ideale werden mit der Kritik und der Figur des Kritikers verbunden? Was für ein Licht wirft der Blick zurück auf jüngere und jüngste Krisen und Debatten (oder Nichtdebatten)? Nicht zuletzt: Welchen Einfluss hatten Verrisse auf Kanon und ‚Höhenkamm‘? Inwiefern werden sie selbst zum Höhenkamm des Kampfs gegen ein immer neues ‚Unterirdisches‘?
Im Seminarverlauf, der durch Textpatenschaften strukturiert ist, soll eine Engführung auf den Verriss in der Lyrikkritik erfolgen und der Blick für tagesaktuelle Texte und Debatten offengehalten werden. Textvorschläge seitens der TeilnehmerInnen sind sehr willkommen.

Literatur zur Einstimmung und Vorbereitung: Geisel, Sieglinde: Der Verriss – eine Selbstreinigungsmaßnahme der Literaturkritik. https://tell-review.de/der-verriss-eine-selbstreinigungsmassnahme-der-literaturkritik; Große deutsche Verrisse von Schiller bis Fontane. Hg. u. eingel. v. Hans Mayer. Frankfurt a.M.: Insel, 1967; Stauffer, Hermann: Art. „Polemik“. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. v. Gert Ueding. Band 6: Must – Pop. Tübingen: Niemeyer, 2003, Sp. 1403-1415.

LV findet als synchrone Zoom-Sitzung zur angegebenen Zeit statt.

Semester: WiSe 2020/21