Seit Erfindung der Kinematographie sind Lehrfilme vielgefragte Medien der Herstellung und Gestaltung, Kommunikation und Verbreitung von akademischem und nicht-akademischem Wissen. Die Übertragung von Wissensinhalten ins filmische Medium hat Verschiebungen auf zeitlicher und räumlicher, epistemischer und diskursiver Ebene zur Folge. Bei der Anfertigung (audio-)visueller Wissensrepräsentationen werden – bewusst oder unbewusst – bereits bestehende Wissenspartikel und Erkenntnisgegenstände umgeformt (L. Fleck). Dabei autorisiert der Film bestimmte Inhalte und verwandelt sie in visuelle Argumente, fügt kulturellen Narrativen neue Bedeutungen hinzu oder initiiert herausfordernde Wahrnehmungen. Wissen wird hierbei aus seinen vormaligen historischen, soziopolitischen, moralischen und medialen Kontexten gelöst, reinszeniert und – angereichert mit neuen Impulsen – in weitere Zirkulation gebracht. Dass die Filmkamera seit Ende der 1890er Jahre ein gewichtiges Forschungs- und Erkenntnisinstrument und daher eine valide historische Quelle für die Humanwissenschaften darstellt, betont die Wissenschaftsgeschichte seit über einem Jahrzehnt (‚Fieber der Piktoralität‘).

Im Seminar werden entlang einschlägiger Theorielektüren (u.a. von M. Berton, L. Daston/P. Galison, L. Cartwright, J. v. Dijck, P. Geimer, D. Haraway, V. Hediger, M. Heßler, A. Kaes, R. Reichert, H.-J. Rheinberger, Ph. Stiasny, P. Zimmermann/K. Hoffmann) genreübergreifend ausgewählte Lehrfilme aus dem internationalen Raum analysiert. Diese reichen von der frühen Kinematographie in der Medizingeschichte, über neuropsychiatrische und sexualhygienische Lehrfilme während des Ersten und Zweiten Weltkriegs sowie Zeichentrickfilme der Walt Disney Company bis hin zu aktuellen Beispielen auf Internetplattformen (wie Netflix oder Youtube). Es wird nach der jeweiligen historischen Einbettung des Films, seinen Produktions- und Rezeptionskontexten und kulturhistorischen Referenzen ebenso gefragt wie nach hervorstechenden Erzählformen, filmästhetischen Mitteln und Repräsentationsstrategien. Welche „Mediamorphosen“ (K. Blaukopf) strukturieren die Objektbiographien der Filme und wie regen sie deren Bildwelten an? Auf welche Weise avancieren Lehrfilme – ausgehend von ihren ursprünglichen Adressierungs- und Verwendungszusammenhängen – in späteren Kontexten zu Kunstfilmen? Und aus welchem Grund enden sie nicht selten als ‚orphan films‘, als ‚Leichen‘ in Archivkellern?

Semester: WiSe 2020/21