Gemeinschaft in Zeiten der Pandemie, was bedeutet das? Die Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft ist ein junges Phänomen, eingeführt gegen Ende des 19. Jahrhunderts von Ferdinand Tönnies. Sie diente in den nächsten Jahrzehnten mitunter der Abwehr einer institutionalisierten und wie es schien vereinzelnden Gesellschaft, zu Gunsten von –häufig romantisierter Gemeinschaft. Die Schattenseiten von Gemeinschaft, ihre Grenzziehungen wie Ausschlüssen in Hinsicht auf gender und "race", und beengenden Konventionen wurden nicht nur von Dostoyevski und Nietzsche lyrisch dargestellt sondern auch mit Bruderschaften bis in totalitäre Formen im NS als historische Erfahrung vorgelebt. Sie beobachten wir auch in der Gegenwart alltäglich insbesondere im Umgang mit Geflüchteten, mit den politischen Verschiebungen hin zu verstärktem Nationalismus in Europa und darüber hinaus, ebenso wie im inzwischen so bezeichneten, oft virtuell sich vereinigenden Anti-­‐Genderismus. Über die kulturwissenschaftliche und gendertheoretisch informierte Diskussion einschlägiger Arbeiten wie von Tönnies, Durkheim, Weber und Anderson nähern wir uns den Begriffen von Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung, und befassen uns weiter mit aktuellen empirischen Ansätzen der (meist dann soziologischen) Ausgrenzungsforschung auf Basis der sogenannten group threat theory, intergroup contact theory und Theorien des ‚belonging’, die historisch und theoretisch in ihren Rückgriffen auf ökonomische Konkurrenz-­‐und Konflikttheorien zu kontextualisieren sind. Auf diese Weise wird Theoriewerkzeug erarbeitet, um verschiedene Formen der Gemeinschaft, von der Pariser Commune bis zum nationalistischen ‚Nachbarschaftsschutz’ systematisch zu unterscheiden und zu einem kritischen Umgang mit dem Begriff von –und Leben in –Gemeinschaft zu gelangen.

Wir werden Ihre und anderer Erfahrungen, sowie die außerordentliche Aktualität des Konzepts „Gemeinschaft“ in dieser Zeit, in der Formen der Gemeinschaft zur Debatte stehen, die zuvor demokratischer Alltag waren und wo neue Formen sich herausbilden, zum Teil unserer Analyse machen.

Ein großer Teil dieses Seminars wird dazu genutzt, gemeinsam einen Artikel zu Gemeinschaft in Zeiten der Pandemie zu verfassen, der am Ende der Semesters veröffentlichungsreif sein soll (für eine kulturwissenschaftliche Zeitschrift). Wer eine MAP machen möchte, kann sie (mit zusätzlichem Einsatz) hierfür einsetzen.

Bitte schreiben Sie in Vorbereitung des Kurses bereits jetzt Ihr persönliches Corona-Tagebuch: Welche Erfahrungen machen Sie in diesen Tagen mit (ohne?) Gemeinschaft?
Das kann ganz informell sein, jede Notiz ist recht.

Semester: SoSe 2020