Der Ausdruck 'Utopie', heute meist für Zukunftsentwürfe verwendet, hat eigentlich keine zeitliche, sondern eine räumliche Bedeutung – allerdings eine negative: Das griechische Wort ou-topos bedeutet 'Nicht-Ort'. Eben deshalb ließ der englische Gelehrte und Politiker Thomas Morus sein gattungsbegründendes Buch von 1516, "De optimo reipublicae statu" ("Über die beste Staatsverfassung") auf der "neuen Insel Utopia" spielen: einem Stück Welt, das keinen festgelegten Ort hatte und umso besser zum Schauplatz eines mustergültigen Staates taugte. Im Seminar sollen verschiedene Ausprägungen utopischen Erzählens in der frühen Neuzeit exemplarisch erschlossen werden. Dazu zählen im 17. Jahrhundert die an Morus anschließenden, eher philosophischen Beschreibungen optimaler Gemeinwesen (etwa Johann Valentin Andreaes "Christianopolis", 1619, oder Francis Bacons "Nova Atlantis", 1627), die Gegenwelten der Schäferdichtung (beginnend mit Martin Opitz' "Schäfferey von der Nimfen Hercinie, 1630) und die in barocken Staatsromanen aufscheinenden Andeutungen "künfftiger Glückseligkeit" (so am Ende von John Barclays "Argenis", 1621). Seit dem späten 17. Jahrhundert werden utopische Erzählmuster verstärkt mit Elementen des Abenteuerlichen angereichert, am bekanntesten in Daniel Defoes "Robinson Crusoe" (1719). Im Seminar werden wir uns ausführlich mit der wichtigsten deutschsprachigen Robinsonade befassen: Johann Gottfried Schnabels Roman "Wunderliche Fata einiger See-Fahrer" (ab 1731, bekannt unter dem Titel "Insel Felsenburg"), der die Geschichte eines Schiffbruchs mit der Gründung eines Gemeinwesens verknüpft. Von besonderem Interesse sind hier die Zeitstrukturen des Erzählens, die die Räumlichkeit der Utopie auf komplexe Weise anreichern. Am Ende des Seminars steht ein Einblick in Louis Sébastien Merciers 1770 erschienenen Roman "Das Jahr 2440", der die Utopie in eine geträumte Zukunft verlagert.

Zur Anschaffung (und gerne auch schon zur vorbereitenden Lektüre):

  • Klaus J. Heinisch (Hg.): Der utopische Staat. Reinbek 1998 (Rowohlt tb; enthält Morus' "Utopia" und Bacons "Nova Atlantis" in deutscher Übersetzung)
  • Johann Gottfried Schnabel: Insel Felsenburg. Hrsg. von Volker Meid/Ingeborg Springer-Strand. Stuttgart 2013 (Reclam Universal-Bibliothek)

Aktuelle Forschungsliteratur zur Einführung:

  • Thomas Schölderle: Geschichte der Utopie. Eine Einführung. 2. Aufl., Köln 2017.
  • Michael Dominik Hagel: Fiktion und Praxis. Eine Wissensgeschichte der Utopie. 1500-1800. Göttingen 2016.
  • Otfried Höffe (Hg.): Politische Utopien der Neuzeit. Thomas Morus, Tommaso Campanella, Francis Bacon. Berlin 2016.

Semester: SoSe 2020