Seine Kinder zu schlagen ist falsch. Frauen sollten nicht mehr Hausarbeit übernehmen müssen als Männer. Und auch Ehefrauen haben ein Recht darauf, „Nein“ zu Sex zu sagen. Diese Aussagen waren einmal radikal neu (Vergewaltigung in der Ehe ist in Deutschland erst seit 1997 strafbar). Aber hier und heute ermöglichen sie begründete Kritik an den gegenwärtigen Verhältnissen. Daran, dass jede vierte Frau in Deutschland mindestens einmal in ihrem Leben Opfer partnerschaftlicher Gewalt wird. Oder daran, dass Frauen gerade in der Pandemie einen Großteil der zusätzlich anfallenden Haus- und Sorgearbeit übernommen haben.

Leben wir aber (schon) dann in einer guten Gesellschaft, wenn Hausarbeit gerecht verteilt und häusliche Gewalt minimiert ist? Oder sollten wir vielmehr darüber nachdenken, inwiefern der Bezugsrahmen, in dem sich diese Probleme stellen, selbst nicht alternativlos ist? Anders gefragt, (wie) können wir begründet darüber streiten, wie privates und öffentliches Leben gestaltet sein sollte?

In diesem Seminar werden wir uns diesen Fragen anhand der Begriffe ‚Autonomie‘, ‚Entfremdung‘, und ‚Spontaneität‘ nähern. Wir werden uns vor allem mit Theorien beschäftigen, die den Einfluss gesellschaftlicher Faktoren auf individuelle Entscheidungen in den Vordergrund stellen und Autonomie als wesentlich sozial konstituiert begreifen.

Stellen Sie sich zum Beispiel zwei junge Menschen vor, die sich dazu entscheiden, tradwives, traditionelle Hausfrauen zu werden. Alex lebt in einer patriarchalen Gesellschaft, in der es wenig andere Möglichkeiten gibt. Britt lebt in einer emanzipierten Gesellschaft, in der ihr andere Lebenswege offenstehen. Ist B autonomer als A, da mehr Möglichkeiten offenstehen? Ist B, die sich trotz anderer Möglichkeiten für ein (vermeintlich) patriarchal geprägtes Lebensmodell entscheidet, weniger autonom?

Was würde im jeweiligen Fall Autonomie ermöglichen? Ist es plausibel, dass As Autonomie auch deshalb eingeschränkt ist, weil wenig Raum für Spontaneität, Neugierde, und Fantasie bleibt? Wenn ja, schränkt eine Gesellschaft, in der ein bestimmtes Lebensmodell, bspw. die Kleinfamilie, vorherrscht, unweigerlich die Autonomie ihrer Mitglieder ein? Wäre das anders, wenn ein gemeinschaftlicheres Lebensmodell vorherrschen würde? Können manche Lebensmodelle oder Gesellschaften als entfremdeter/entfremdender beschrieben werden als andere? Wie hängt die Trennung von öffentlicher und privater Sphäre mit Autonomie zusammen? (Inwiefern) beeinträchtigen Herrschaftsstrukturen Autonomie?

Diese Fragen werden uns einen Einstieg in etablierte philosophische Debatten um Autonomie bieten. Am Ende des Semesters wird eine Diskussionsveranstaltung mit Daniela Dover und Jonathan Gingerich stattfinden. Der Kurs setzt die Bereitschaft voraus, englischsprachige Texte zu lesen.

Semester: SoSe 2024