Was ist Gebet und was bedeutet es zu beten? Diese scheinbar einfache Frage kann eine Vielzahl von Antworten hervorrufen. Selbst in historischen spätmittelalterlichen europäischen Gesellschaften wären die Antworten überraschend vielfältig gewesen. Das Gebet war keine universelle, sondern eine äußerst vielfältige Erfahrung, die zu einer Vielzahl von Praktiken führte. Daher ist das Gebet als soziale Praxis und als „totales, soziales Phänomen“ (Breitenstein und Schmidt 2019, basierend auf Mauss) ein faszinierendes und vielschichtiges Thema, das Einblicke in die tief verwurzelten sozialen, kulturellen und religiösen Strukturen einer Gesellschaft bietet.

Das Gebet war nicht nur eine religiöse Handlung, auch nicht nur eine individuelle und spirituelle Handlung, sondern auch eine bedeutende und zentrale soziale Praxis, die das tägliche Leben und die kulturelle Landschaft dieser Zeit prägte, und das Zusammenleben und die Interaktionen zwischen den Menschen beeinflusste. Es war allgegenwärtig und durchdrang sämtliche Aspekte des gesellschaftlichen Lebens. Von liturgischen Zeremonien in Kirchen bis hin zu persönlichen Andachten in den eigenen vier Wänden war das Gebet ein integraler Bestandteil des Alltags der Menschen.

Der historische Kontext und die Entwicklung der Normen und Praktiken werden wir untersuchen, und dabei werden wir verschiedene religiöse Traditionen und kulturelle Kontexte berücksichtigen, auch mit Blick auf aktuelle Debatten und Kontroversen. Die Vorstellung vom lateinischen Christentum suggeriert fälschlicherweise eine vereinheitlichte Gebetspraxis im Laufe der Zeit und in verschiedenen Regionen. Gebet und Gebetsverhalten waren jedoch nicht homogen. Die verschiedenen Geschwindigkeiten und Wege, auf denen Urbanisierung, (volksprachliche) Schriftlichkeit, und religiöse Reformen (z.B. Observanzbestrebungen in vielen religiösen Orden; Devotio Moderna) in verschiedenen Regionen ab c. 1200 entwickelt wurden, verstärkten die Vielfalt der christlichen Gebetspraktiken in ganz Europa.

Das Proseminar untersucht die vielfältigen Formen und erfüllten Funktionen des Gebets im Spätmittelalter, die über rein spirituelle Bedürfnisse hinausgehen. Wir werden die verschiedenen Rollen betrachten, die das Gebet in sozialen, politischen, und kulturellen Kontexten spielt, und wie es als Mittel der Kommunikation, Integration, und Identitätsbildung fungiert, sei es in Familien, religiösen Gemeinschaften und Kirchen, im häuslichen Umfeld oder sogar in politischen und militärischen Kontexten, in denen es soziale Bindungen stärkt und kollektive Identitäten formt. Es ist wichtig, auch die geschlechtsspezifischen Aspekte des Gebets zu betrachten und zu verstehen, wie Gebetserfahrungen und -praktiken durch geschlechtsspezifische Normen und Erwartungen geprägt wurden.

Des Weiteren betrachtet das Proseminar die Rolle verschiedener Medien und Artefakte im Zusammenhang mit dem Gebet. Von Texten und Büchern bis hin zu Bildern und religiösen Symbolen untersucht es, wie diese Medien das Gebet unterstützten, beeinflussten und verstärkten, indem sie eine Rolle in der Vermittlung zwischen Diesseits und Jenseits, sofern der Unterschied relevant war, spielen sollten.

Literatur:

Breitenstein, Mirko, und Christian Schmidt. „Einleitung: Medialität und Praxis des Gebets“. Das Mittelalter 24, Nr. 2 (19. November 2019): 275–82. https://doi.org/10.1515/mial-2019-0033.

Arnold, John H., Hrsg. The Oxford Handbook of Medieval Christianity. Oxford: Oxford University Press, 2014. https://doi.org/10.1093/oxfordhb/9780199582136.001.0001.


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