Die Biografik gilt aufgrund ihrer hybriden Stellung zwischen Literatur und Wissenschaft seit langer Zeit als eine umstrittene Gattung. Sie ist dem Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit‘ ausgesetzt. Demgegenüber entwickelt sich seit den 1970er Jahren eine neuere Biografikforschung, vor allem im Bereich wissenschaftsgeschichtlicher, kulturwissenschaftlicher und methodologischer Forschungsrichtungen. Sie setzt sich intensiv mit dem Problem der Konstruktivität und der Subjektivität des Schreibenden auseinander und wendet sich unter Abkehr von der Heroisierung und Mythisierung kanonisierter Gestalten verstärkt dem Konkreten der historischen Subjekte zu, um sich auf die ihnen eigenen Perspektiven zu richten, etwa auf ihre Geschichtlichkeit, Selbstverständnisse, Lebens- und Handlungskonzepte, Werte etc. Auch in der Musikwissenschaft haben Ansätze der neueren Biografieforschung in den letzten Jahrzehnten Eingang gefunden. Allerdings steht sie nicht im Mittelpunkt der musikwissenschaftlichen Diskussion. Vor diesem Hintergrund stellt sich das Seminar zur Aufgabe, sich mit der Biografik in der Musikwissenschaft auseinanderzusetzen, und zwar auf der Basis der Methodik der neueren Biografieforschung und auf der Grundlage historischer Quellen (Tagebuchnotizen, Briefe, Selbstbiographien u.a.). Im Vordergrund steht die kritische Analyse modellhaft ausgewählter Beispiele vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart (z. B. Biographien über Johann Sebastian Bach, Wolfgang Amadeus Mozart, Ludwig van Beethoven, Felix Mendelssohn Bartholdy, Emilie Mayer, Clara Schumann, Pëtr Il’ič Čajkovskij, Giacomo Puccini). Wer schreibt eine Biografie, wie und warum? Wie geht eine Biografie mit der zu beschreibenden  Person, deren Selbstverständnis, Lebens- und Handlungskonzept um? Inwieweit spielen ideologische Voreinstellungen des Schreibers (z. B. Nationalismus, Antisemitismus, Geschlecht, Homosexualität) in der Biografie eine Rolle? Lassen sich bestimmte biografische Konzepte im Wandel der Geschichte feststellen? Das sind Fragen, die das Seminar leiten. Des Weiteren wird diskutiert, inwieweit die Biografik Aufschlüsse für die Interpretation von Musik geben kann.


Semester: WiSe 2023/24