Dies ist ein Seminar über Digitalisierung.

Spoiler: Was Digitalisierung ist, ist unklar. Zumindest ist umstritten, auf welches empirische Phänomen sich dieses Feldkonzept bezieht. Und ob und wie es von verwandten Feldkonzepten wie Digitaler Raum, Digitalität, digitale Transformation, digitales Zeitalter, digitale Gesellschaft etc. zu unterscheiden wäre.

Steht Digitalisierung für einzelne „disruptive“ Technologien oder großtechnische Systeme? Für die Übersetzungspraxis von stufenlosen analogen in diskrete, digitale Informationswerte, oder für Fähigkeiten wie „Smartness“, oder organisatorische Kapazitäten wie „Agilität“? Ist es eine neue Regierungsform? Ein digitaler Kapitalismus? Ein leerer Tech-Hype oder eine wirkmächtige Vermarktungserzählung? Eine Ideologie des „Digitalismus“? Gesellschaftlicher Kulturwandel? Institutionalisierte Digitalpolitik? Oder eine herrschaftskritische Bewegung von unten? …

Dies ist auch ein Seminar, in dem in das Feld digitaler Anthropologie eingeführt wird.

Zweiter Spoiler: Die Digitale Anthropologie ist ein kaum definierter Diskurs: die Ansichten über das Forschungsobjekt, die Relevanz von (digitalen) Forschungsmethoden und die theoretischen Bezugspunkte sind sehr verschieden. Allein die Abgrenzung eines eigenen Diskursstrangs für ein Phänomen, das alle anderen Forschungsthemen und -Methoden zu durchdringen scheint, ist umstritten.

Verfolgen wir einzelne Innovationsprozesse?  Heben wir das Neue hervor oder die historische Genese? Analysieren wir die sozialen Zusammenhänge von Tech-Entwickler*innen? Oder die alltägliche Nutzung digitaler Artefakte? Müssten wir uns die Menschen oder Maschinen - oder deren Beziehungen ansehen? Oder Cyborgs und hybride Daseinsformen? Nehmen wir digitale Technologien buchstäblich auseinander? Verfolgen wir die technischen Funktionweisen? Die eingeschriebenen Zwecke und Normen digitaler Technologien? Die Einbettung in gesellschaftliche Herrschaftsstrukturen? Oder die Kontingenz der Wirkung und die Offenheit der Nutzung? …

In diesem Seminar werden wir das doppelte Ziel verfolgen, uns einen Überblick über beide „Problemfelder“ - das empirische Phänomen sowie anthropologische Zugänge dazu - zu verschaffen. Welche unterschiedlichen Erkenntnisse über das Digitalisierungs-Phänomens eröffnen Zugänge der Anthropologie der Politik, der Ökonomie, der Medien, des Designs, der Anthropologie der Alltagskultur und der Arbeit, sowie der Science and Technology Studies (STS) … ? Und: welche Problematiken und Leerstellen gehen jeweils mit ihnen einher?  Ziel dieses Seminars kann und wird kein umfassendes Kartographieren digitaler Phänomene, keine repräsentative Analyse digitaler Technologien und auch kein systematisches Theoretisieren von digitalen Ordnungen und Machtverhältnissen sein. Vielmehr soll über das Forschungsobjekt Digitalisierung eine Bandbreite von - für die digitale Anthropologie - relevanten Forschungsansätzen mitsamt ihrer verschiedenen zugrundeliegenden theoretischen Setzungen, methodologischen Verfahren und politischen Implikationen herausgearbeitet werden. Dies wird uns schließlich ermöglichen, das analytische Handwerk, mit überwältigenden Makro-Phänomenen und Buzzword-Erscheinungen umzugehen, zu üben.


Semester: WiSe 2023/24