Rekonstruktivismen übersetzen Vergangenes in die Gegenwart. Derart berühren sie das Spannungsfeld zwischen Vergessen und menschlicher Erinnerung. Am Offensichtlichsten geschieht dies in archäologischen, architektonischen oder konservatorischen Kontexten, aber auch in Historiographien oder durch Anekdoten. Rekonstruktionen spielen in künstlerischen Werken, in performativen Praxen oder als Inhalte malerischer Bildstrukturen ebenso eine Rolle wie für das kuratorische Denken oder die Ausstellungspraxis; sie können im Rahmen der kritischen Theorie oder geschichtsphilosophischer Denkmodelle adressiert werden. 

Vor dem Hintergrund einer Vielzahl aktueller, oft kontrovers geführter Rekonstruktionsdebatten – die vom Berliner Schloss bis zur Kathedrale von Notre Dame reichen, aber auch Ausstellungen und Kunstwerke betreffen können – befragt die Ringvorlesung sowohl den Begriff, als auch gegenwärtige Phänomene des Rekonstruktivismus. Anhand verschiedener Case Studies aus der Kunst- und Bildgeschichte, der zeitgenössischen Kunst, Archäologie, Philosophie, Medientheorie, Architektur und Restaurierung sollen die oftmals impliziten und inkongruenten Konzepte und Praxen der Rekonstruktion kritisch diskutiert werden und mit anderen Formen der Wiederholung oder Revision (zum Beispiel bei Repliken oder KI-generierter Kunst) in Dialog gesetzt werden. Phänomene, die unter den Begriff der Dekonstruktion fallen, sind wiederum als Beispiele einer über die archäologische Praxis hinausgreifenden, "gebauten" bzw. "kreativen Zerstörung" zu berücksichtigen. Sie operieren über Prozesse des Wegnehmens und Addierens und zielen aus unterschiedlichen Motivationsgründen (ästhetisierend, informativ, oder sogar ideologisch) darauf ab, zeitliche Strukturen zu markieren oder zu verwischen.

Rekonstruktionen schaffen neue Rahmen und damit neue Wahrnehmungsbedingungen für orginäre Konstellationen, Räume, Strukturen und Temporalitäten. Es stellt sich daher die Frage, inwiefern Affirmationen historischer Gegebenheiten, die oft als identitätsbildend verstanden werden, auch als Transformationen lesbar sind. Können produktive Lücken und kritische Wirkungen in Prozessen der Wiederholung entstehen, die sich Praktiken des Neulesens oder Re-enactments annähern? Um Rekonstruktivismen als pluralistische Denkfigur zu untersuchen, befassen sich die Beiträge folglich auch mit der Frage, ob sich Rekonstruktionen ebenso nach ihren ideologischen Wirkungen, als auch nach Möglichkeiten der Widerständigkeit befragen lassen.

Die epochen- und medienübergreifende Ringvorlesung versammelt Beiträge von wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen des Instituts für Kunst- und Bildgeschichte und von externen Expert*innen.


Semester: WiSe 2023/24