Anders als die bürgerliche Literatur (seit der Entstehung von Ästhetik,
Geschichtsphilosophie und Anthropologie Mitte des 18. Jahrhunderts)
leiten die litterae der Vormoderne ihren Anspruch nicht aus der
Behauptung ab, sie bildeten das Medium einer ästhetischen Erkenntnis
eigenen Rechts. Vielmehr erscheinen sie eingebettet in vielfältige
soziale, politische und religiöse, ethische und ökonomische, logische
und psychologische Kontexte, innerhalb derer sie den Prozess der
kulturellen Ausdifferenzierung in Wort, Schrift und Bild mittragen oder
gar anstoßen und vorantreiben. Dank ihres exemplarischen Gestus dient
solch "heteronome Literatur" ihren Auftraggebern, Produzenten und
Rezipienten als problemlösende und modellbildende Kraft, die
Vorstellung, Urteilsvermögen und Erinnerung gleichermaßen bewegt und
übt.
Jene Kontexte, innerhalb derer die vormoderne Literatur
operiert, sind im Zeichen der bürgerlichen Kunstautonomie so stark vom
modernen Literaturbegriff abgelöst worden, dass wir sie heute gleichsam
archäologisch wieder freigelegen müssen, um der Fremdheit der Artefakte
näherkommen zu können. Deshalb möchte ich versuchen, das Zusammenspiel
von Werk und diskursiver Umwelt anhand ausgewählter Dichtungen –
durchgehend best books! – aus dem Mittelalter und der Frühen
Neuzeit vorzuführen und auf Schlüsselkonzepte der vormodernen Kultur
bzw. der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion hin zu untersuchen, um
Perspektiven für das weitere Studium der Mediävistik und für das
Verstehen literarischer Formen überhaupt aufzubauen.
Die
Arbeitsfelder der Mediävistik, die im Einzelnen angesprochen werden, um
die Besonderheiten mittelalterlicher und frühneuzeitlicher litteratura zu
erfassen, betreffen das Fortwirken der antiken Seelenlehre in
mittelalterlicher Wahrnehmungspsychologie, die exemplarische Deutung von
Geschichte durch Typologie und Allegorese, die Transformation des
"Sagengedächtnisses" in Spielmannsdichtung und Heldenepik, die "Neue
Poetik" des höfischen Romans, die exemplarischen Denkformen der
Minnekultur sowie Exempla religiöser Kommunikation in Schwank,
Fastnachtspiel und frühneuzeitlicher Utopie.
- Kursverantwortliche/r: Claudia Flade
- Kursverantwortliche/r: Anne K. Ramin
- Kursverantwortliche/r: Prof. Dr. Hans Jürgen Scheuer