Fremde Kinder. Kindheitswissen und Wissenskrisen in der Literatur
Mo, 12-14 UhrDie „Entdeckung der Kindheit“, die der Historiker Philippe Ariès auf das 17. Jahrhundert datiert hat, ging mit einer zunehmenden Distanzierung zwischen Erwachsenen und Kindern einher. Im selben Maße, in dem das Kind in den Mittelpunkt wissenschaftlicher Interessen und Versuche rückte – etwa im Kontext sprachanthropologischer und pädagogischer Diskurse – wuchs paradoxerweise das Bewusstsein für seine Andersartigkeit und seine epistemische Unzugänglichkeit. „Man kennt die Kindheit nicht“, heißt es in Rousseaus Roman Emile oder Über die Erziehung, der 1762 erschienenen Gründungsschrift der modernen Pädagogik. „Mit den falschen Vorstellungen, die man von ihr hat, verirrt man sich umso mehr, je weiter man geht […]. Die Kindheit hat eine eigene Art zu sehen, zu denken und zu fühlen, und nichts ist unvernünftiger, als ihr unsere Art unterzuschieben.“ Seit sich im bürgerlichen Zeitalter die Verhältnisse zwischen den Generationen neu sortierten, wird das Kind zunehmend als rätselhafte Kreatur wahrgenommen, als „fremdes Wesen, das unaufhörlich für Verunsicherung sorgt.“ (Davide Giuriato) Anhand ausgewählter Texte von u. a. E. T. A. Hoffmann, Adalbert Stifter, Sigmund Freud, Walter Benjamin und Rainer Maria Rilke und unter Einbeziehung derer jeweiligen sozial- und wissensgeschichtlichen Kontexte soll nach dieser Entwicklung im Allgemeinen und nach der Figur des fremden Kindes im Besonderen gefragt werden: Unter welchen historischen, epistemischen und poetologischen Vorzeichen treten die äußerlich oder innerlich als fremd wahrgenommenen Kinder in besagten Texten auf? Welche wiederkehrenden Deutungsmuster, Projektionen und Fragen sind mit ihnen verbunden? Weshalb wird die Figur des fremden Kindes auffallend oft in Momenten der Krise und Disruption mobilisiert? Und welche Fortsetzung findet sie in gegenwärtigen Climate Fiction Erzählungen?
Der Leistungsnachweis kann über die Mitarbeit in einer Expert:innen-Gruppe (gemeinsamer Impulsbeitrag und Thesenpapier zu einer Sitzung) erbracht werden.
- Kursverantwortliche/r: Denise Reimann