In den letzten Jahren sind – mit Globalisierung, Hyperdiversität und Mehrsprachigkeit – Übersetzungsprozesse und ihre Konfliktfelder ins Zentrum kulturwissenschaftlicher Debatten gewandert, gelegentlich wird sogar von einem translational turn gesprochen.

In Literatur und Literaturwissenschaft stehen die Möglichkeiten einer adäquaten Übertragung von Bedeutungen in andere Sprach- und Kulturräume im Zentrum. Theorie und Praxis des Übersetzens stehen dabei in einem Spannungsfeld konträrer Auffassungen: Die eine Seite vertritt eine grundsätzliche Übersetzbarkeit, weil jeder Sprache und jeder Kultur universell geltende Bedeutungen eigen seien, so dass z.B. Texte ohne größere Verluste in andere Sprachen übertragen werden könnten. Die andere Seite geht von einer grundlegenden Unübersetzbarkeit aus, insofern die Besonderheit jedes Originals eine adäquate Übertragung verhindere, so dass jeder Übersetzungsprozess einen ganz neuen Text hervorbringe.

In der Kulturanthropologie gehörte die Vorstellung, durch „Übersetzen zwischen Kulturen“ zu globalen Verständigungsprozessen beizutragen, lange zum disziplinären Selbstverständnis. Übersetzen meinte dabei sowohl Prozesse der Verschriftlichung und Konzeptionalisierung von Beobachtungen als auch das „Wandern“ ethnographischer Berichte über Grenzen hinweg. Mit der Writing Culture-Debatte und der damit einhergehenden Krise der Repräsentation ist die Sensibilität für Politiken und Poesien dieser Praktiken gewachsen – auch und gerade in Hinblick auf Gender als Strukturkategorie und Kategorie der Reflexion. Unter postkolonialen Bedingungen geht es nicht länger um das Übersetzen zwischen (zwei) Kulturen. Vielmehr wird Übersetzen als zentrales Moment der Verhandlung von Differenz und der Möglichkeit gesellschaftlicher Transformationen verstanden.

Im Zentrum des Seminars steht das Übersetzen im sprachlichen und wissenspraktischen Sinn. Erarbeitet werden literaturwissenschaftliche Übersetzungstheorien (u.a. von W. Benjamin) und Konzepte ‚kultureller Übersetzung‘ (u.a. von S. Gal, D. Bachmann-Medick). Daneben werden ethnographische Studien zum Übersetzen als (transnationale) Praxis diskutiert (Anna Tsing, Gloria Anzaldua, G.Ch. Spivak) und literarische Texte um Übersetzerfiguren und Mehrsprachigkeit (von I. Bachmann, G.-A. Goldschmidt, T. Mora, Y. Tawada) sowie Praxiserfahrungen von (literarischen) Übersetzer*innen in den Blick genommen. Besonderes Augenmerk wird dabei auf der Frage liegen, was in diesen Praktiken und Prozessen mit intersektional gedachten Geschlechterbildern und -verhältnissen geschieht.

Das Seminar findet im wöchentlichen Rhythmus in Präsenz statt, gelesen werden deutsch- und englischsprachige literarische und theoretische Texte.

Semester: SoSe 2023