Der Begriff Genauigkeit lässt an die Errungenschaften der sogenannten exakten Wissenschaften denken. Auf die Frage, worin das Exakte der Naturwissenschaften besteht, könnten eine Physikerin, ein Chemiker oder eine Mathematikerin mit großer Selbstverständlichkeit auf Naturgesetze, auf die unzweifelhaften Wahrheitswerte ihrer Formeln oder die genauen Messverfahren ihrer Experimente verweisen. Doch welchen Stellenwert hat Genauigkeit in den Geisteswissenschaften? Wenn die Naturwissenschaften als „hart“, empirisch und „exakt“ gelten, muss man die Geisteswissenschaften dann umgekehrt als „weich“ und „ungenau“ bezeichnen, wie der Philologe Jacob Grimm 1846 nicht ohne Ironie vorschlug?

Im Seminar werden wir uns mit der Begriffsgeschichte der Genauigkeit beschäftigen und das Konzept der „epistemischen Tugenden“ diskutieren. Mit interdisziplinärer Vielfalt und anhand von Fallgeschichten werden wir sodann die historische Genese, theoretische Ausgestaltung und praktische Wirksamkeit von Verfahren untersuchen, die unter der Maßgabe von Genauigkeit die Erkenntnisproduktion im geisteswissenschaftlichen Kontext formen. Insbesondere wird die Aufmerksamkeit spezifischen Kulturtechniken gelten, die in täglichen Forschungsroutinen zum Einsatz kommen, also etwa im Lesen, Beschreiben, Klassifizieren, Korrigieren oder Vergleichen. Dabei interessieren uns sowohl die produktive Dimension von Genauigkeit im Erkenntnisprozess, als auch die Momente, in denen sie ins Exzessive, Pathologische, Phantastische kippt.

Semester: SoSe 2023