Zu dem, was man mit Theodor W. Adorno „die gesellschaftliche Lage“ der Geistes- und Kulturwissenschaften heute nennen könnte, gehört 1) wachsender externer Druck auf diese Fächer, in ihrem „Beitrag zur Gesellschaft“ über Reflexionswissen hinauszugehen und Orientierungswissen zu bieten, etwa Pflege und Verbreitung (dieser oder jener) ‚Werte‘. Zu dieser Lage gehört 2) die durch Klimakrise und Anthropozän induzierte Infragestellung für diese Fächer lange maßgeblicher Leitunterscheidungen wie z.B. Naturgeschichte vs. Menschen-Geschichte, oder, kürzer, Natur und Kultur, was zur Proliferation neuer Felder wie Environmental Studies, Animal und Plant Studies geführt hat. 3) Begleiten und verschärfen technologische Entwicklungen das Abschleifen Jahrhunderte lang nicht einfach gültiger, sondern gerade in ihrer Bestreitbarkeit fruchtbarer Unterscheidungen.
Vor diesem Hintergrund vergegenwärtigen wir uns die Geschichte der Geisteswissenschaften (also nicht einzelner Fächer!) anhand von Grundlagentexten, in diesem Semester von Wilhelm Dilthey (1903) bis Bruno Latour (1994) (beziehungsweise Dipesh Chakrabarty (2009)). Zu prüfen ist, wie ein fächerübergreifendes Selbstverständnis geisteswissenschaftlichen Tuns und Lassens aussah und welche möglichen Implikationen das für die heutige Situation haben könnte.
Ein vorangegangener Besuch des Seminars "Grundlagentexte der Geistes- und Kulturwissenschaften (I): Von Bacon bis Dilthey" ist keine Teilnahmevoraussetzung. 


Semester: WiSe 2022/23