Zwei Romane - Zweimal Leben? Sophie de la Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771) und Karl Philipp Moritz‘ Anton Reiser
(1785) stehen als repräsentative Lektüren für Fragen nach
Bildungskonzepten im 18. Jahrhundert im Zentrum des Seminars. Welchen
Anteil der Roman als emanzipatorische Kraft und zugleich
literarisch-fiktionaler Gestaltungs- und Möglichkeitsraum der Einfühlung
wie der Gelehrsamkeit zugleich entwickeln kann, soll ausgehend von
einer eng geführten Doppel-Lektüre anhand dieser beiden wichtigen Werke
gemeinsam erarbeitet werden. Moritz bezeichnet seinen Reiser im Untertitel als einen psychologischen Roman, de la Roches Sternheim rühmen
Goethe und Merck in einer vielzitierten Rezension als „kein Buch,
sondern eine Menschenseele“. Wie diesen Menschenseelen in Fiktion
gestaltet werden, wird aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet werden.
Geplant sind zudem Seminarsitzungen, in denen im Grimmzentrum mit den
Historischen Beständen der HU gearbeitet werden soll. So kann sich der
Bezugsrahmen unserer Beobachtungen intermedial weiten. Denn Seitenblicke
auf Rousseaus Emile oder Moritz’ ABC ergänzen das
Bild ebenso wie Einblicke in Kupferstiche und Illustrationen, die Anteil
an der Vermittlung von Bildungsprogrammen und -programmatiken haben und
teils bis heute in Norm- und Wertvorstellungen hinein wirken.
Das Seminar findet als Plenumssitzung statt, herkömmliche
Referate entfallen. Als spezielle Arbeitsleistung ist eine Beteiligung
an einer Projektarbeit vorgesehen, die zum Ende der Vorlesungszeit
fertigzustellen ist: Gemeinsam sollen ganz im Sinne des medienaffinen
18. Jahrhunderts Journal-Ausgaben gestaltet werden, die Befunde,
Miszellen, Besprechungen und weitere Horizonte und Kontexte im
Zusammenhang mit den beiden Romanen erschließen, zusammenführe und durch
eigene Texte oder Essays ergänzen. Es könnten z.B. Themenhefte mit
Schwerpunkten zu europäischen Bildungsromanen oder einem Fokus auf
Geschlechterfragen entstehen, vielleicht auch zu pädaogischen Fragen im
18. Jahrhundert. Diese Projektidee fußt nicht zuletzt auch auf die hier
gewählten Autor:innen selbst, die eigene Zeitschriftenprojekte
verwirklicht haben: „Pomona für Teutschlands Töchter“ (1783-1784) und
das „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde“ (1783-1893).
- Kursverantwortliche/r: Constanze Baum
- Kursverantwortliche/r: Salome Zacher
Semester: WiSe 2022/23