Natalija Gontscharowa und Michail Larionow setzen sich seit 1913 in ihrer Malerei des Rayonismus mit „räumlichen Lichtformen“ auseinander. Sie wollten „die einzige Realität“ malen: die Summe des von den Gegenständen reflektierten Lichts. In seiner suprematistischen Malerei definierte Kasimir Malewitsch den Gegenstand als „eine Masse der Zeitmomente“ und bezog sich dabei offenbar auf die Relativitätstheorie Albert Einsteins. Die Konstruktivisten Lissitzky, Popowa, Rodtschenko, Stepanowa, Tatlin diskutierten seit 1921 die Konstruktion als ein genuines Verfahren der Raumgestaltung, ginge es auch um ein zweidimensionales Bild. In der frühen Sowjetunion wollten sie ihre Arbeit an der Raumgestaltung aus dem künstlerischen in den wirtschaftlichen sowie sozialen Raum übertragen und entwickeln die Ansätze zur Produktionskunst. Michail Matjuschin forschte an den Wechselbeziehungen zwischen Farbe und Umgebung/Raum bis in die Stalinzeit.

Das Seminar rekurriert auf die um 1900 formulierten, energetisch begründeten Konzepte des Raumes als elektromagnetisches Feld / Kontinuität / Medium und stellt sie dem breiten Spektrum der Formexperimente der Avantgarde gegenüber. Zur Diskussion steht die Frage, ob und wie der energetische Raumbegriff zum Generieren neuer Kunstobjektkonzepte durch die Avantgarde beitrug. Methodisch geht es nicht nur um eine Rekonstruktion dessen, welche naturwissenschaftlichen Konzepte von der Avantgarde rezipiert wurden, sondern auch um die Untersuchung dessen, wie diese Konzepte bei der Übertragung in künstlerische Formzusammenhänge interpretiert und transformiert wurden. Hierzu werden wir im Seminar sowohl Primärquellen (Manifeste, kunsttheoretische Texte), als auch methodisch relevante Sekundärliteratur lesen. Begleitend werden wir uns kritisch mit dem Begriff „russische Avantgarde“ auseinandersetzen. Anders als der Begriff suggerieren mag, handelt es sich bei der Bezeichnung „russisch“ nicht einfach um eine ethnisch-nationale Zugehörigkeit, sondern um die Staatsangehörigkeit zum Russischen Reich. Wie ließe es sich heute damit differenziert umgehen?

Semester: SoSe 2022