Das Rätsel ist eine literarische Kleinform, die so flexibel wie weit verbreitet ist: Es ist für viele Genres und Medien grundlegend und kann ganz verschieden wirken, neben Witz und Spannung auch Verunsicherung, Grauen und Wut erzeugen. Das Rätsel hat eine lange historische Tradition, die bis in die Frühe Neuzeit, das Mittelalter und die Antike zurückreicht; angeblich verläuft es sich im 19. Jahrhundert und muss erhebliche Verbreitungs- und Formverluste verkraften (vgl. etwa: Schittek 1991, 22f.). Das Seminar will diese Behauptung korrigieren und den besonderen Status des Rätsels in der Moderne in den Blick nehmen. Anstatt zu verschwinden, so die zugrundeliegende Hypothese, diffundiert das Rätsel ab 1800 durch verschiedene Formen, Gattungen, Medien und Diskurse und wird so zu einem zentralen Pfeiler moderner Wahrnehmung und Programmatik (Boltanski). Eine solche Perspektive führt zu eben diesen vier systematischen Großkategorien, die dabei helfen, das Rätsel und seinen Verbleib ab 1800 genauer zu bestimmen: Form, Gattung, Medium und Diskurs werden als Merkmalslieferanten des Rätsels und umgekehrt als Zielbereiche seines Wirkens verstanden. Neben Formspezifika wie der Zwei- oder Dreigliedrigkeit des Rätsels und seinen Topoi wie dem Menschen, Kosmos oder dem Obszönen sollen auch nutznießende Gattungen besprochen werden, vor allem der Kriminalroman oder die phantastische Erzählung. Schließlich beleuchtet das Seminar die mediale und materiale Verbreitung des Rätsels im 20. und 21. Jahrhundert und seine diskursiv mächtige Rolle in Verschwörungstheorien. Mit Brett- bzw. Kartenspielen und mit umstrittenen Rap-Videos ist zu prüfen, ob das Rätsel als Verunsicherung der Realität nicht auch eine zentrale Rolle für spezifisch (spät-)moderne Wahrnehmungs- und Sozialformen – sowie deren Krisen und Diagnosen („Postfaktisches“) – spielt.


Semester: SoSe 2022