Auf dem Forschungsfeld von ›Literatur und Wissen‹ ist der Traum ein paradigmatischer Untersuchungsgegenstand: Angesichts eines Wissensobjekts, das nur in Form von Erinnerungsberichten vorliegt, verbietet es sich, von einer Existenz außerhalb der Darstellung auszugehen. In Bezug auf die Unmöglichkeit, die körperliche Dimension des Traums in der Sprache der Psychologie zu fassen und seine psychischen Eigenschaften mittels physiologischer Beschreibungen zu erreichen, betrachtet etwa Martina Wagner-Egelhaaf den Traum als »anthropologische Grenzerfahrung«.  Deren Reformulierung im literarischen Text lasse deutlich werden, dass Traumerfahrung stets an sprachlich-symbolische Vergegenwärtigung gebunden sei. Literarische Texte, die Träume erzählen, stellen also nicht nur das Traumwissen ihrer Zeit dar (oder unterlaufen es), sondern reflektieren auch ihre Existenzbedingung. Manfred Engel bezeichnet einen Aufsatz zu Traumtheorie und literarischen Träumen im 18. Jahrhundert als »Fallstudie zum Verhältnis von Wissen und Literatur«.

Gelten diese Annahmen, die im Hinblick auf literarische Texte und Traumauffassungen einer säkularisiert gedachten Moderne formuliert wurden, auch für Traumtexte und Traumauffassungen der Vormoderne, in der Traumvisionen göttliche Botschaften sein oder Jenseitsreisen ermöglichen können, während allegorische Traumdarstellungen häufig gar nicht den Anspruch erheben, auf tatsächlich Geträumtes zu referieren? Im Seminar werden wir uns zunächst mit einigen neueren literatur- und kulturwissenschaftlichen Ansätzen zum Traum auseinandersetzen, bevor dann, mit Schwerpunkt auf der italienischen und französischen Literatur der Frühen Neuzeit (Dante Alighieri, Giovanni Boccaccio, Charles Sorel, aber auch Visionserzählungen von Heiligen oder Träume in Lebensbeschreibungen wie der Girolamo Cardanos) exemplarisch Texte gelesen werden, die Träume oder Visionen erzählen oder sich in anderer Form mit dem Traum und der Traumerzählung befassen. Auch religiöse oder medizinische Traktate zu Traum und Vision werden eine Rolle spielen. Gute Französisch- und/oder Italienischkenntnisse sind erwünscht, deutsche Übersetzungen müssen ggf. selbst besorgt werden. Interessierten wird parallel der Besuch der Ringvorlesung ›Traumwissen und Traumdarstellung im Gattungskontext‹ empfohlen.

Semester: SoSe 2022