Das Erzählen von sich selbst kann je nach Zielpublikum und Funktion des Textes zu verschiedenen diskursiven Produktionen führen. So unterscheidet man beispielsweise zwischen dem Genre des Tagebuchs, der Memoiren und den klassischen Formen der Autobiografie. In diesem Seminar konzentrieren wir uns auf Texte, in denen sich die erzählenden Subjekte von vornherein als soziale Subjekte darstellen und somit ihren sozialen Werdegang direkt in ihren reflexiven Schriften thematisieren. 

Wir werden uns insbesondere für die Texte Annie Ernaux’ interessieren. Zum einen für die von ihr als „autosoziobiographisch“ beschriebenen Erzählungen ab La Place (1983, Der Platz, 2019). Diese werden wir vor dem Hintergrund ihrer Referenzen auf Bourdieus Soziologie lesen. Auch werden wir Bezüge zu dessen posthum erschienenen Soziologischen Selbstversuch (2002, Esquisse pour une auto-analyse, 2004) sowie anderen sogenannten Autosoziobiographien herstellen, beispielsweise Didier Eribons autobiographischem Essay Rückkehr nach Reims (2016, Retour à Reims, 2009) oder Deniz Ohdes Roman Streulicht (2020). Zum anderen werden wir Annie Ernaux’ Projekt einer „unpersönlichen Autobiographie“, Les années (2008, Die Jahre, 2017), in Hinblick auf das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft und dessen sprachliche Gestaltung untersuchen. 

Darüber hinaus werden wir die Frage nach den Auswirkungen der Selbsterzählung auf das erzählende Subjekt stellen, ausgehend von der Annahme, dass das Erzählen immer auch eine Selbstveränderung mit sich bringt. Doch wie lässt sich diese Selbstveränderung denken? Nach dem Modell des Erwerbs einer narrativen Identität, wie es Ricœur vorschlägt, oder durch Mobilisierung des Konzepts der Subjektivierung, das von Foucault eingeführt und von Judith Butler neu konzeptualisiert wurde? Vor diesem Hintergrund werden wir schließlich den mit Butler und Foucault im Dialog stehenden Text Testo junkie (2008/2016) von Paul B. Preciado lesen. Wie gestaltet sich hier die Analyse gesellschaftlicher Subjektivierungsprozesse am eigenen Körper und inwiefern fallen körperliche und narrative Transformation in eins?

Ausgehend von präzisen literarischen Analysen bietet dieses Seminar einen theoretischen Rundgang durch zeitgenössische Gedanken zur Selbsterzählung.


Semester: SoSe 2022