Thomas Mann schreibt in seinem Roman Doktor Faustus von einem „halbwegs zum Sehen gebildeten Auge“. Hiermit impliziert er, dass ein aktives Hinsehen, das Unterscheidungen trifft und fragile Veränderungen wahrnimmt, kein unmittelbar gegebenes Vermögen ist, sondern vielmehr die „kritische Intelligenz des Sehens“ (C. Einstein) gefördert werden kann. Hauptanliegen des Seminars ist, Theorie und Methode der Formanalyse zu vermitteln sowie verschiedene Darstellungsformen und Ausdrucksweisen in der Malerei zu unterscheiden. Dabei geht es nicht allein darum, bildliche Eigenheiten zu erkennen, sondern sie auch in eine präzise Sprache zu übersetzen. Die Formanalyse bildet folglich nicht nur das kritische Sehen aus, sondern auch und vor allem das genaue Beschreiben von Kunstwerken. Hierfür ist die Werkbetrachtung und die Analyse von Einzelwerken maßgeblich, weshalb das Seminar größtenteils in Berliner Museen (Gemäldegalerie, Alte und Neue Nationalgalerie, Berggruen, Bodemuseum) stattfinden wird. Die traditionelle gegenständliche als auch moderne Malerei samt ihren Gemeinsamkeiten und Differenzen werden behandelt. Dabei wird der formale Aufbau mit dem inhaltlichen Stoff der Bilder verschränkt. Was sehen wir, wenn wir auf einem Gemälde von Cézanne nicht lediglich eine lokalisierbare Landschaft wiedererkennen wollen? Faktoren wie Lichtführung, Farbgebung und Komposition, das Verhältnis von Figur und Grund, Fläche und Tiefe werden im Seminar genauer betrachtet und an vielfältigen Fallbeispielen diskutiert. Neben den Sitzungen vor Originalen werden ferner einflussreiche Positionen und Beispiele der Formanalyse (Fiedler, Raphael, Imdahl) gemeinsam gelesen und hinterfragt.

Semester: SoSe 2022