Die Gegenwart ist geprägt von einer Rückkehr zum vermeintlich Konkreten, die sich in ganz disparaten Phänomenen ausdrückt: sei es die ohnmächtige Rückbesinnung auf die Nation oder die Opposition zwischen Volk und Elite, die Hypostasierung empirischer Daten und der daraus abgeleiteten Prognosen oder Versuche, dem abstrahierenden Anthropozentrismus durch Hinwendung zum Nicht-Menschlichen zu entgehen. Gleichzeitig sehen wir uns konfrontiert mit der in ihrer Totalität scheinbar abstrakten Bedrohung des menschengemachten Klimawandels, die sich in einer Vielzahl von (konkreten?) Ereignissen niederschlägt, von Naturkatastrophen bis hin zu politischen Revolten und der gesellschaftlichen wie geographischen Verdrängung von Menschen aus ihrem Lebensumfeld.

Ausgehend von Hegels kurzem Text „Wer denkt abstrakt?“ (1807) setzt sich das Seminar mit dieser auf den ersten Blick widersprüchlichen Verdopplung von Konkretion und Abstraktion auseinander. In dem zu Hegels Lebzeiten unveröffentlicht gebliebenen Text präsentiert Hegel dasjenige Denken als abstrakt, das von den vielfältigen Verbindungen zwischen der Wirklichkeit und dem begrifflichen Denken absieht. Das Konkrete und seine vermeintlich neutrale Wirklichkeitsbeschreibung steht auch im Mittelpunkt eines kürzlich erschienenen Bandes mit dem Titel Herrschaft des Konkreten (2020): gemeint ist die Herrschaft „neutraler“ Fakten oder Daten, deren algorithmischer Auswertung und Anwendung für politisch-ökonomische Zwecke, ob zur Verbesserung individualisierter Werbeangebote, zur Terrorismusbekämpfung oder zur Eindämmung einer Pandemie. Wie wenig neutral diese Konkreta tatsächlich sind, lässt sich z.B. deutlich am rassistischen Bias von Gesichtserkennungs-Dispositiven ablesen. Das Seminar untersucht diese Schein-Neutralität anhand einer kritischen Befragung des Verhältnisses von Abstraktion und Konkretion. Dabei geht das Seminar von der Annahme aus, dass das Abstrakte nicht bloß geistig und umgekehrt das Konkrete nicht bloß faktisch ist. Vielmehr verwischt in der Verdopplung von Abstraktion und Konkretion die Unterscheidung zwischen Tatsache und Schein. Diese schwindelerregende Auflösung ist die Wirklichkeit der kapitalistischen Gesellschaft im einundzwanzigsten Jahrhundert.

Semester: SoSe 2022