Höfische Kultur feiert Gemeinschaft, (soziale) Identität basiert auf gegenseitiger Wahrnehmbarkeit, auf die selbst die solitäre Abenteuersuche ausgerichtet ist. Das Mittelhochdeutsche stellt zudem ein wenig differenziertes Vokabular für Einsamkeit zur Verfügung. Dennoch finden sich in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters markante Szenen der Vereinzelung, etwa als Gregorius für den Inzest büßt, als Iwein aus Liebe wahnsinnig wird, als Parzival angesichts von Blutstropfen im Schnee in Trance verfällt oder als Sigune um ihren toten Geliebten trauert.
Im heutigen Deutsch kann man Einsamkeit „lieben, suchen, fürchten“ (Duden). Emotionale Aspekte wie Vereinsamung, Abstumpfung, Langeweile, Angst oder aber Entspannung, Erregung, Freude, Freiheit gelten nicht a priori als gesetzt. Welche Emotionen und Wertungen verbinden sich in der höfischen Kultur mit der Einsamkeit?
In narratologischer Perspektive stellt sich die Frage, wie sich Erzähler zur Abgeschiedenheit der Figuren verhalten (z.B. in der Fokalisierung). Welche Räume und Zeiten ermöglichen die temporäre oder dauerhafte Isolation? Spielen Status und Gender eine Rolle? Kommen Adlige ohne Personal aus?
Das SE verfolgt das Ziel, im close reading und in Auseinandersetzung mit kulturtheoretischen Positionen bisherige Forschungsergebnisse zur höfischen Kultur aus der Perspektive von Einsamkeitsentwürfen neu zu bewerten.
Neben der Vor- und Nachbereitung wird als Arbeitsleistung ein Essay zu verfassen sein.

Literatur zur Einführung: Ina Bergmann und Dorothea Klein (Hg.): Kulturen der Einsamkeit (Würzburger Ringvorlesungen 18), Würzburg 2020; Karl A. E. Enenkel und Christine Göttler (Hg.): Solitudo. Spaces, Places, and Times of Solitude in Late Medieval and Early Modern Cultures (Intersections 56), Leiden/Boston 2018; Georges Duby: Situationen der Einsamkeit: 11. bis 13. Jahrhundert, in: Geschichte des privaten Lebens. Bd. 2: Vom Feudalzeitalter zur Renaissance, hrsg. von Georges Duby, Frankfurt/M 1990 [frz. Orig. 1985], S. 473-496.

Semester: SoSe 2022