Das 16. Jahrhundert nimmt sich im Kontext der deutschen und europäischen Geschichte wie eine Bühne aus, auf der sich die widersprüchlichsten Strebungen kreuzen und bis zur Eskalation steigern. Eingerahmt von der Entdeckung der Neuen Welt und von der Destruktion der Alten Welt durch den Dreißigjährigen Krieg, begleitet von den Folgen des Medienumbruchs von Manuskript- und Druckzeitalter, von den epistemologischen  Wenden des Humanismus und der empirischen Wissenschaften sowie von den ökonomischen Durchbrüchen des Fernhandels auf einen globalen Waren- und Geldverkehr hin, schließlich befeuert durch die konfessionellen und politischen Konflikte im Zuge der Reformation, scheint sich ein Drama der experientz und des gesellschaftlichen Experiments mit beispiellosem Innovations- und Krisenpotential abzuspielen. Literarisch scheint sich all das auf den ersten Blick kaum niederzuschlagen: Die mittelalterlichen Stoffe des höfischen Romans, die kleinen Formen der Exempeldichtung, die geistlichen und weltlichen Spiele werden weitergeführt, im Druck freilich meist in Prosa aufgelöst bzw. ihre Theatralität in neuem Layout präsentiert; ganz zu schweigen von den lyrischen Formen, die der städtische Meistersang in zünftiger Organisation fortschreibt. Als Georg Martin Wieland im 'Teutschen Merkur' Ende des 18. Jhds. in einer Reihe von Porträts die vergessene Literatur des 16. Jhds. wieder zu entdecken versucht, setzt er daher nicht an den Inhalten an, sondern an den Physiognomien des literarischen Stils. Daran (und nicht an abgebildeten Sachgehalten) soll sich die Signatur der frühneuzeitlichen Epoche ablesen lassen. In der Literaturwissenschaft des 20. Jahrhunderts setzen eine solche Form literarischer Kritik unter anderen die Arbeiten Erich Auerbachs ('Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur') oder Hans Geulens ('') fort. Ihrem Beispiel wird die Vorlesung folgen und an Stilproben wie an Fingerabdrücken das Gepräge jener neuen Zeit untersuchen. Im Mittelpunkt sollen Prosaromane, Schwanksammlungen und Spiele des 16. Jahrhunderts stehen. An ihnen möchte ich die Figurationen studieren, die sich mit den interpretativen Mitteln des alten Wissens den Krisen ihrer Gegenwart deutend und poetisch annähern, um ihre Wirklichkeit als Literatur zu entwerfen.

Semester: SoSe 2022