Der 2021 verstorbene Charles Mills ist einer der bedeutendsten Sozial- und politischen Philosophen unserer Zeit. In seinem Buch The Racial Contract von 1997 bedient sich Mills klassischen vertragstheoretischen Motiven, um dem tatsächlichen Vertrag auf die Schliche zu kommen, der unseren westlichen Gesellschaften zugrunde liegt und die Verhältnisse in ihnen regelt. Mills’ so provokative wie einflussreiche These, die maßgeblich von marxistischen und feministischen Arbeiten inspiriert ist, lautet, dass an diesem Vertrag nicht alle Menschen als Vertragsparteien beteiligt sind. Vielmehr handelt es sich um einen Vertrag zwischen weißen Menschen, der ihre Vormachtstellung gegenüber nicht-weißen Menschen sichert und die Beherrschung nicht-weißer Menschen festschreibt – eben um einen „racial contract“. Auch in methodologischer Hinsicht ist The Racial Contract interessant: Es stellt das Gegenprogramm zu einem „idealtheoretischen Vorgehen“ in der politischen Philosophie dar (wie es paradigmatisch im Rahmen von John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit entwickelt wird). Es tut dies insofern, als dass The Racial Contract von der gesellschaftlichen Wirklichkeit und ihrem tatsächlichen rassistischen Funktionieren ausgeht; mithilfe von „non-ideal mapping concepts“ (wie es Mills in einem bekannten Aufsatz von 2005 nennt) soll diese Wirklichkeit erfasst werden. In seinem letzten Buch Black Rights/White Wrongs. A Critique of Racial Liberalism von 2017 knüpft Mills an The Racial Contract an, gibt seinen Überlegungen jedoch eine neue Richtung. Die Perspektive ist nun eine Rettung des Liberalismus. Genauer entwirft Mills einen „Black radical liberalism“, dem es um die Beseitigung historischer und aktueller Ungerechtigkeiten geht.

In diesem Hauptseminar werden wir uns intensiv mit den beiden genannten Büchern von Mills auseinandersetzen. Dabei wird es neben Mills’ inhaltlichen Thesen auch um die genannten methodologischen Punkte gehen. Eine zentrale Frage, die wir am Ende des Semesters auf Grundlage unserer Auseinandersetzung mit Mills’ Werk beantworten können wollen, lautet, inwiefern der späte Mills tatsächlich sein Programm aus The Racial Contract fortsetzt oder ob es hier in methodologischer Hinsicht einen Bruch gibt. Vorkenntnisse im Bereich der liberalen Gerechtigkeitstheorie wie auch der Critical Philosophy of Race sind für dieses Seminar durchaus hilfreich, wenn auch nicht Voraussetzung. Was vorausgesetzt wird, ist jedoch die Bereitschaft, sich mit anspruchsvollem philosophischem Material auseinanderzusetzen und sich über das Semester hinweg aktiv und konstruktiv ins Seminar einzubringen.  


Wichtig: Das Seminar endet mit einem ganztägigen Symposium im Andenken an Charles Mills mit eingeladenen Wissenschaftler:innen, das ich gemeinsam mit Dr. Deborah Mühlebach und Prof. Dr. Robin Celikates (beide FU Berlin) organisiere. Dieses wird am 15.7.2022 an der HU stattfinden. Das Symposium ist Teil des Seminars. Wenn Sie an dem Seminar teilnehmen möchten, sollten Sie sicherstellen, dass Sie am 15.7. auch an dem Symposium teilnehmen können.

Praktische Hinweise: The Racial Contract sollte vor Beginn des Semesters erworben werden; bei Black Rights/White Wrongs empfiehlt sich ebenfalls die Anschaffung (die wichtigsten Kapitel werden aber auch über Moodle bereitgestellt). Zur ersten Sitzung  wird es bereits eine unbenotete Studienleistung geben. Näheres dazu erfahren Sie im Moodle-Kurs.

 

Wer mehr zu Mills als Philosophen erfahren will, kann die Nachrufe von Rahel Jaeggi und mir in der SZ und von Robin Celikates auf dem Theorieblog lesen:

https://www.sueddeutsche.de/kultur/nachruf-auf-den-rassismus-forscher-charles-w-mills-mit-scharfsinn-und-humor-1.5419263

https://www.theorieblog.de/index.php/2021/09/charles-mills-1951-2021-nachruf-auf-einen-vordenker/

Semester: SoSe 2022