Ausgangspunkt für das Studienprojekt ist ein Verständnis von Deutschland als einem nekropolitischen Raum, der stark mit der Ver- und Auslagerung von politischer Gewalt arbeitet. Das europäische Grenzregime, z. B., schafft und nutzt rechtliche Rahmen, um regionale und globale Machtgefällt und Ungleichheiten aufrecht zu erhalten. Dabei wird Gewalt sowohl zugelassen als auch direkt eingesetzt. Das Studienprojekt befasst sich mit den nekropolitischen Verstrickungen Deutschlands und Europas mit einer bestimmten Region: Kurdistan. Im Südosten der Türkei kämpft seit den 80er Jahren die kurdische Bewegung um mehr Freiheit und Selbstbestimmung. Im Zuge der revolutionären Aufstände in Syrien und des anschließenden Bürgerkriegs haben mit der kurdischen Bewegung verbundene politische und militärische Kräfte zunächst den ‚Islamischen Staat’ besiegt und effektiv die Macht über weite Teile Nordostsyriens erlangt. In dieser autonom regierten Region wird seitdem um die Verwirklichung einer basisdemokratischen, pluralistischen und feministischen politischen Ordnung gerungen. Dabei gerät dieses gesellschaftspolitische Projekt nicht nur vonseiten des zentralen syrischen Regimes unter Machthaber Assad unter Druck, der seinen souveränen Anspruch auf die Region nicht aufgegeben hat. Es ist vor allem die Türkei, die immer wieder militärisch aggressiv und unter Einsatz von islamistischen Söldnertruppen die Region angreift und zum Teil neokolonial annektiert. Deutschland wiederum hat einerseits von der Zerschlagung des IS profitiert (wofür Tausende kurdische Kämpfer*innen gefallen sind), andererseits pflegt der deutsche Staat weiterhin sehr gute Beziehungen zur Türkei. Deutschland exportiert Kriegswaffen in die Türkei und kriminalisiert und verfolgt die kurdische Bewegung im Inneren.
Vor dem Hintergrund dieser real- und nekropolitischen Verstrickungen soll es in dem Studienprojekt aber auch um die Möglichkeiten und der politischen Wirkungsmacht von Trauerarbeit im transnationalen Raum gehen. Es gibt schon lange eine größere und diverse kurdische Community in Deutschland. Auch in den letzten Jahren sind zahlreiche Menschen aus der Region nach Deutschland gekommen. Viele haben die Traumata des Krieges und der Flucht durchlebt, haben Familienangehörige und Freunde sowie ihr Zuhause verloren. Trauerarbeit und ihr Bezug zum öffentlichen Raum bilden ein wichtiger Bereich, in dem einerseits untersucht werden kann, wie Grenzen der Zugehörigkeit und Differenzierungen in der Bewertung menschlichen Lebens auch dadurch zum Ausdruck kommen, welche Tode und Verluste wie und in welcher Form betrauert werden, bzw. betrauert werden können. Das bedeutet auch, dass Trauer und Gedenkarbeit ein wichtiges politisches Mittel sein können, um eben diese Grenzziehungen und Bewertungslogiken in Frage zu stellen und somit kritisch auf die nekropolitische Dimension einer nationalen oder europäischen biopolitischen Grundordnung aufmerksam zu machen. Das Studienprojekt geht also der Frage nach, wie transnationale Solidarität, Trauerarbeit und politischer Aktivismus in Deutschland verknüpft wird, bzw. werden kann. Dabei soll auch ein Blick auf die Dimension der materiellen Kultur geworfen werden, also auf die Dinge, Objekte und materiellen Verbindungen, die Erinnerungs- und Trauerarbeit ermöglichen und unterstützen.
Zuletzt umfasst das Studienprojekt eine Zusammenarbeit mit einer Gruppe Studierender an der Uni Rojava in Qamishli, Nordsyrien. An dieser Uni wurde unter Leitung des Anthropologen Sardar Saadi im Sommer 2020 ein sozialwissenschaftliches Institut gegründet. Nach einem ersten Übergangsjahr wird dort ab diesem Herbst die erste Kohorte von MA Studierenden ausgebildet. Wir werden die digitalen Möglichkeiten nutzen, um Grenzen zu überwinden und mit den Studierenden dort zusammen den zentralen Fragestellungen nachzugehen.
Das Studienprojekt wird größtenteils in Präsenz stattfinden, Teile aber auch als gemeinsame online (Zoom-)Sitzungen mit den Studierenden in Rojava. Sollte es noch weitere Fragen geben oder besondere Lernbedürfnisse, die ich bei der Planung beachten sollte, dann meldet euch gerne vorab bei mir: alice.bieberstein@hu-berlin.de.
- Kursverantwortliche/r: Alice Rogalla von Bieberstein