In welchem Verhältnis stehen Musik, Text und Szene im Musiktheater und inwiefern kann Musik trotz einer Reduzierung oder gar Absenz der szenischen Ebene theatralisch erscheinen?
Im Seminar wird diesen Fragen aus chronologischer, achronischer und synchroner Perspektive nachgegangen. Das heißt, wir werden spezifische musikdramaturgische Charakteristika anhand von Beispielen in ihren musikhistorischen, musiktheoretischen und soziokulturellen Entwicklungen kontextualisieren. Darüber hinaus werden achronische, epochenübergreifende Merkmale, also Gemeinsamkeiten von musiktheatralischen Werken mit alternativen bzw. minimierten visuellen Darstellungen oder ohne die szenische Ebene erforscht. Und es werden diverse Arten musikdramaturgischer Strategien in bestimmten musikgeschichtlichen Zeitabschnitten beleuchtet.
Zum Beispiel werden theatralische Formen aus der Spätrenaissance-/Barockzeit, doch auch Tendenzen der aktuellen Komposition und Musikdramaturgie musikalisch analysiert, und es wird gezeigt, dass Musiktheater nicht zwingend der szenischen Aktion bedarf. Denn eine Absenz oder eine neuartige, reduzierte Nutzung der visuellen Ebene in musikdramaturgischer Hinsicht lässt oft mehr als weniger assoziative Bedeutungsschöpfung zu und regt die imaginäre Vorstellungskraft im Rezeptionsprozess in besonderem Maße an. Dabei kann Vokalmusiker*innen allerhand abgefordert werden, wenn z. B. gestische Aspekte der Stimme im steten Wechselverhältnis zu instrumental oder elektronisch produziertem Klang hervorgehoben werden. An Relevanz gewinnt zudem nicht selten das Verhältnis Musik-Text.
Gegenstand der Betrachtung sind ebenso weltliche Madrigale wie für das Radio konzipierte Werke (musikalisches Hörspiel, Funkoper); auf der Bühne, doch ohne größere szenische Mittel aufgeführte Kompositionen, die sich als musiktheatralisch verstehen; minimierte und an besondere Spielorte angepasste Inszenierungen und musikalische Besetzungen (vgl. Pocket Opera); solche, die durch neue Medien wie (Live-)Video integriert werden; und solche, die für unterschiedliche, sprich variable Aufführungssituationen gedacht sind. In die zu untersuchenden Beispiele eingeschlossen werden aus kontrastierender Perspektive Kompositionen wie Liederzyklen, die entgegen ihrer ursprünglichen Bestimmung szenisch realisiert wurden. Der Kreativität und Vielfalt der Möglichkeiten sind keine Grenzen gesetzt – so dass auch die Corona-Situation zur Schöpfung neuer Formate und Aufführungsformen führte.