Ou-topos, der Nicht-Ort, bildet in Thomas Mores glücklicher Namensinvention des Inselstaates Utopia (1516) alles andere als einen Ort außerhalb jeder denkbaren Räumlichkeit. Denn auch wenn er nicht über physikalische Koordinaten festgelegt werden kann, existiert er doch virtuell: als mentaler locus im Sinne eines Fundortes für Argumente, deren musterbildende diagrammatische Formeln, imaginäre Verdichtungen und intensive Affektbesetzungen, sich um das unbesetzte Zentrum des Nicht-Wissens anordnen lassen. Dort steht er, noch in der Verneinung insistent, als Präparat dem Gebrauch zur Verfügung, der das so Lozierte – wie die berühmte Nase aus Wachs –nach Belieben in alle Richtungen biegen und beugen kann.

Anders verhält es sich mit der Ou-chronie: Die "Nicht-Zeit" ist nämlich keine bloße Spielart des "Nicht-Ortes". Sie ist nicht der Joker innerhalb eines Argumentationsspiels, sondern greift radikal die Aussagemodalitäten und Wahrheitsbedingungen der sprachlichen Darstellung an, indem sie die Kausalketten außer Kraft setzt, die der Geschichtsschreibung aus der Position ihrer Nachträglichkeit die Fesseln des Determinismus anlegen. Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert führt das – vereinzelt und marginal – zu historiographischen Fiktionen, die Geschichte im Namen ihrer nicht verwirklichten Möglichkeit umschreiben und das Unmöglich-Gewordene als Faktum erzählen, um die Gegenwart kontingent erscheinen zu lassen und die Vergangenheit ungeschehen zu machen.

Das Ergebnis jener Operation erscheint moderner Leser:innen kaum zwingend: Es verliert sich im Leeren. Vormodern dagegen verweist die Uchronie auf eine Zeit außerhalb der Zeitlichkeit: entweder auf eine absolute Vorzeitigkeit vor allen innerweltlichen Gründen oder auf eine absolute Nachzeitigkeit nach allem innerweltlich Geschehenen – theologisch gesprochen: auf die Schöpfung oder auf die Apokalypse. Zwischen beiden Polen aber kommt es in der mittelalterlichen Chronistik immer wieder zu einem bisher nicht geklärten Phänomen: Die historische Zeit wird zur Heterochronie, indem die Erzählzeit die erzählte Zeit schrumpfen oder anwachsen lässt. Im Seminar wollen wir daher die Deformationen annalistisch gereihter Zeiträume und ihre Füllung/Entleerung genauer betrachten: Warum regiert nach den offiziellen Kaisertafeln Augustus 40 Jahre, in der 'Kaiserchronik' aber 56 Jahre lang? Wieso erscheinen dort unter den verifizierbaren Caesaren mit Philippus oder Narzissus Kaisernamen, für die der Chronist zwar eine präzise Angabe ihrer Regierungszeit bietet, deren Existenz jedoch in keiner Quelle belegt ist? Und umgekehrt: Wieso werden nachweisbaren Kaisern Geschichten zugeordnet, die in ihren Quellenzusammenhängen aus vorimperialen Epochen stammen, also dezidiert transloziert und verändert werden?

Methodisch dienen solch punktuelle Beobachtungen dem Versuch, den Begriff der Uchronie für die Analyse vormoderner Zeitkonzeption neu zu erschließen, um so Aufschluss darüber zu gewinnen, was es konzeptionell für chronikalische und biographische Narrative bedeutet, wenn sie als Produkte poetischer und hermeneutischer Transaktionen verstanden und vom Faktizitätskriterium moderner Historiographie gelöst werden. Die Metamorphosen der historischen Zeit können zudem ein Licht werfen auf die Schichtungen und Überlagerung innerhalb des Zeitkonzepts. Sie werden dadurch produktiv, dass die kompilatorische Arbeit der Chronisten unterschiedliche literarische Formen miteinander kombiniert: neben Sage und Legende etwa Heldenepik und Antikerezeption (z. B. über die 'Mirabilia Romae' oder die 'Gesta Romanorum'), astrologische und kalendarische Dichtung (wie etwa Ovids 'Fasti'), Fabel und andere Kurzformen sowie geschichts- und politisch-theologisches Denken.

Lit.: Handbuch Chroniken des Mittelalters, hrsg. v. Gerhard Wolf u. Norbert H. Ott. Berlin / Boston 2016

Semester: WiSe 2021/22