‚Lyrik‘ und ‚Gegenwart‘ – die Vorlesung will sich zweier notorischer Stiefkinder der Literaturwissenschaft annehmen. Ist bereits Lyrik in germanistischen Vorlesungsverzeichnissen eher unterrepräsentiert, so gilt dies umso mehr für ihre jüngsten Erscheinungsformen – was nicht zuletzt dem Umstand geschuldet ist, dass die Lyrik nach der Jahrtausendwende bislang kaum ‚verlesen‘, d.h. erschlossen, kanonisiert und für die universitäre Lehre domestiziert ist. Dieses Schicksal teilt sie mit der Prosa des 21. Jahrhunderts – nur erweist sich das Problem hier ungleich eklatanter: Als Soziotop erscheint die Gegenwartslyrik auf den ersten Blick selbst (oder: gerade) gestandenen Literaturwissenschaftler·inn·en als Irrgarten oder Paralleluniversum, als Dschungel von Zeitschriften, Anthologien, Preisen, Institutionen, Veranstaltungsformaten und -reihen.
Begegnungen mit Gedichten, die nach 2000 entstanden sind, enden oft unmittelbar nach dem Erstkontakt. Vieles erscheint – besonders ohne Rückendeckung durch einschlägige oder kanonische Interpretationen oder gar Theorien – auf den ersten Blick unverständlich und unzugänglich, der Erkenntniswert gering.
Ziel der Vorlesung ist es, eine – sei es auch noch so vorläufige – Kartierung des weiten Feldes der Lyrik nach der Jahrtausendwende vorzunehmen und ein kleines, auch literatursoziologisches Panorama von Institutionen jüngster Lyrik, ihren Kontinuitäten und Tendenzen, Erscheinungsformen und Themen zu skizzieren – und nicht zuletzt einige der wichtigsten Stimmen zu Wort kommen zu lassen. Ein Schwerpunkt wird dabei auf experimentellen Verfahren liegen.
Zuvor gilt es, in aller gebotenen Kürze, Hauptstränge der Gattungsentwicklung bis 1945 zurückzuverfolgen, um die Theorien, Traditionen und Ahnen aufzuspüren, auf die sich die jungen Lyriker·innen berufen. Wenngleich der Fokus des Seminars auf der deutschsprachigen ‚Szene‘ liegt, soll diese in den gesamteuropäischen Horizont eingebettet werden, zumal die Lyriker·innen der jüngeren und jüngsten Generation stärker als diejenigen der älteren international vernetzt sind, fremdsprachige Lyrik übersetzen und – u.a. durch internationale Festivals – vielerlei Impulse von Stimmen aus dem gesamteuropäischen und außereuropäischen Raum erhalten.
Im Moodle-Reader finden Sie Materialien zur Vorlesung. Darüber hinaus ist es absolut sinnvoll, ab sofort möglichst viel jüngste Lyrik zu lesen und - sofern möglich - Veranstaltungen zu besuchen (etwa im Haus für Poesie, der Lettrétage, im Heimathafen, LCB, Literaturhaus Berlin usf.). Nutzen Sie den Standortvorteil, zumal die ‚Nische‘ in Berlin seit Jahren prächtig blüht. Und nutzen Sie die digitalen poetischen Angebote der Berliner Institutionen - und der Welt. 


Semester: WiSe 2021/22