Die christliche Mystik des Mittelalters kann als entscheidend für die Ausbildung eines europäischen Subjektverständnisses betrachtet werden, da in ihr Fragen des Verhältnisses zur Welt und zu Gott sowie von Immanenz und Transzendenz auf die Erfahrung und die Innerlichkeit der/des Einzelnen bezogen werden. Dabei steht jedoch das ‚Ich‘ immer wieder in Frage, da die mystische Erfahrung dieses zugleich betont und entgrenzt. Einerseits überkommt eine solche Erfahrung das Ich, andererseits wird in der Erfahrung jegliche Ich-Vorstellung genichtet. Diese Problematik manifestiert sich u.a. in einem Schreiben in Metaphern, Widersprüchen und Analogien, die eine eindeutige Verortung des Ichs unmöglich machen. Damit werden vor allem auch zentrale Probleme der Autorisierung des Schreibens in den Vordergrund gestellt. Unter Bedingungen des Spätmittelalters betrifft dies Frauen in ganz besonderer Weise: Für Frauen war der Zugang zu Texten restringiert, Lese- und Schreibkompetenzen wurden extrem reguliert. Vor diesem Hintergrund bot das mystische Schreiben eine der wenigen Möglichkeiten der aktiven Partizipation an einem gesellschaftlichen Diskurs, oder, anders gesagt: eine Form, gehört bzw. gelesen zu werden.


 

Zentrale Fragen des Seminars sollen daher sein:

Was sind die medialen und gesellschaftlichen Bedingungen des weiblichen Schreibens? Wie verhält sich Stimme zu Schrift? Wie wird dabei der Körper als Erfahrungsraum in Verhältnis gesetzt zur Sprache? Welche Formen des Selbstbezuges kreieren sie? Welche Körperpraktiken spielen eine Rolle? Welche Folgen hat dies für die Entwicklung eines frühen Subjektbegriffs? Wie werden persönliche Erfahrungen narrativer Bestandteil einer Lebensgeschichte oder gar einer Heiligengeschichte?

Der historische Fokus wird – aus der Romanistik und Anglistik kommend – auf dem europäischen Spätmittelalter (14./15. Jahrhundert) im Übergang zur Frühen Neuzeit liegen und sich sprachlich zwischen englischen, italienischen, französischen und spanischen Texten bewegen. Wir erwarten nicht, dass Interessierte alle diese Sprachen beherrschen, sondern werden immer komparatistisch mit den Originalen und Übersetzungen arbeiten.

U.a. werden wir die folgenden Autorinnen lesen: Caterina da Siena / Katharina von Siena (1347-1380), Marguerite Porète / Margareta Porete (um 1250/60-1310), Teresa de Cartagena / Teresa von Cartagena (um 1420-?), Teresa de Ávila / Teresa von Avila (1515-1582), Julian of Norwich / Juliana von Norwich (1342-1413), Margery Kempe (ca. 1373-1438).


Semester: SoSe 2021