Wie inszenieren Wissenschaftsfilme wissenschaftliches Wissen und Forschungsbewegungen? Welche Bilder von Wissenschaft und (‚guter‘, moderner und reflektierter) Wissenschaftlichkeit transportieren sie? Welche Funktionen übernehmen verfilmte Bilder in der Wissenschaft und für dieselbe, und darüber hinaus?

Seit Erfindung der Kinematographie sind wissenschaftliche Forschungs- und Lehrfilme vielgefragte Medien der Herstellung, Manifestation und Gestaltung, Kommunikation und Verbreitung von akademischem und nicht-akademischem Wissen. Die Übertragung von Wissensinhalten ins Filmische hat Verschiebungen auf zeitlicher und räumlicher, diskursiver und epistemischer Ebene zur Folge. Bei der Anfertigung (audio-)visueller Wissensrepräsentationen im Bewegtbildmodus werden – bewusst oder unbewusst – bereits bestehende Wissenspartikel und Erkenntnisgegenstände umgeformt (L. Fleck). Dabei autorisiert der Film bestimmte Inhalte und verwandelt sie in visuelle Argumente (D. Mersch), fügt kulturellen Narrativen neue Bedeutungen hinzu oder initiiert herausfordernde Wahrnehmungen. Wissen wird hierbei aus seinen vormaligen kulturhistorischen, soziopolitischen, moralischen und medialen Kontexten gelöst, künstlerisch reinszeniert und – angereichert mit neuen Impulsen – in weitere Zirkulation gebracht. Dass die Filmkamera seit Ende der 1890er Jahre ein gewichtiges Forschungs- und Erkenntnisinstrument und daher eine valide historische Quelle für die Kultur-, Geistes- und Humanwissenschaften darstellt, betont die Wissenschaftsgeschichte seit zwei Jahrzehnten mit Verve (‚Fieber der Piktoralität‘).

Die internationale Ringvorlesung präsentiert interdisziplinär orientierte Wissenschaftler/innen aus Kulturwissenschaft, Geschichtswissenschaft, Wissenschaftsgeschichte/Epistemologie, Bildungsforschung, Medizingeschichte, Film- und Medienwissenschaft und den Visual Arts, die ausgewählte Wissenschaftsfilme in Verbindung mit den entsprechenden Medientechnologien aus dem transnationalen Raum genreübergreifend analysieren. Das Spektrum reicht von der frühen Kinematographie, dem „cinema of attractions“ (T. Gunning), Medizinfilmen aus der Anatomie und Neuropsychiatrie und populärwissenschaftlichen Filmen zur Gesundheitsprophylaxe und Krankheitsprävention, über Mikro/Makro- und Röntgenkinematographie zur Fixierung des zuvor (ohne Filmkamera in Kombination mit medizinischen Visualisierungstechnologien) Unsichtbaren bis hin zu verfilmten Experimentalanordnungen oder chirurgischen Operationen. Zudem werden Filme der Humanethologie und menschlichen und tierlichen Verhaltensforschung sowie Reise- und Expeditionsfilme, inklusive Recyclingpraktiken von pädagogischem Filmmaterial, thematisiert. Die Vorlesung blickt auf Werbe- und Propagandafilme für wissenschaftliche Leistungen und Public Health-Einrichtungen (z.B. Antialkoholinitiativen, Belehrungen über Epidemien, Tropenerkrankungen, Sexualaufklärung, -hygiene und -politik, Sozialreformen) sowie auf schulische Lehrfilme der DDR und Zeichentrickfilme der Walt Disney Company (u.a. Tierfilme, Atomenergieforschung).

Die Vortragenden fragen nach der jeweiligen historischen Einbettung der Filme, ihren Entstehungsbedingungen, Produktions- und Rezeptionskontexten ebenso wie nach ihnen inhärenten kulturhistorischen Referenzen und politisch-ideologischen Implikationen. Hinzu treten Erkundungen hervorstechender Erzählformen – auch hinsichtlich der Frage von (Audio-)Visualisierung und verschiedener Kommunikationsmodi (Stummfilm, musikalische Begleitung, Filmerklärer, Zwischentitel, Tonfilm) – sowie filmästhetischer Mittel und diverser Repräsentationsstrategien wie Wiederverwertung oder Umschnitt. Welche Vorstellungen von Normativität/Devianz, Geschlecht/Korporalität, kultureller Herkunft/Ethnie/Hautfarbe, agency/Emanzipation transportieren die Wissenschaftsfilme? Welche „Mediamorphosen“ (K. Blaukopf) strukturieren die Objektbiographien der Filme und wie regen sie die Analyse von deren Bildwelten an? Auf welche Weise avancieren Wissenschaftsfilme – ausgehend von ihren ursprünglichen Adressierungs- und Verwendungszusammenhängen – in späteren Kontexten zu Kunstfilmen? Und aus welchem Grund enden sie nicht selten als ‚orphan films‘, als ‚Leichen‘ in Archivkellern, die jedoch wiederentdeckt werden können?

Die Vorlesungsreihe findet in Kooperation mit Katrin Pilz (Ludwig Boltzmann Institute for Digital History/Universität Wien/Université libre de Bruxelles) statt.

Semester: SoSe 2021