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Die Titel der Romane gleichen sich: Clementine (1842), Jenny (1843) oder Kathinka (1844), Boźena (1876) oder Agave (1903), Sibilla Dalmar (1896) oder Christa Ruland (1902). Immer wieder tragen Romantitel im 19. Jahrhundert weibliche Eigennamen – ein literaturhistorisches Paradigma, dessen Bedeutung für den realistischen Bildungs-, Familien- und Gesellschaftsroman selten ausreichend gewürdigt wird. Auch die Autorinnen jener Romane waren oftmals Frauen, ungeachtet dessen, dass in die Literaturgeschichte Titel von Männern eingegangen sind: Seit Gustave Flauberts Madame Bovary (1856) bildet das Genre schließlich einen Gemeinplatz der europäischen Literaturgeschichte. Auch Theodor Fontanes Romanproduktion (Cecile, Grete Minde, Frau Jenny Treibel, Effi Briest) lässt sich wohl nur als Resultat dieser Gattungsgeschichte nachvollziehen. Das historische Paradigma, dessen spätere Etikettierung als ‚Frauenroman‘ immer schon abwertend war, kann auch als Gattungstransfer aus dem bürgerlichen Trauerspiel verstanden werden und hat seine sozialhistorischen Ursprünge in der Genese des Literaturmarkts selbst. Denn gerade die Romanschriftstellerei ermöglichte es seit Beginn des 19. Jahrhunderts immer mehr Frauen, sich dem Zwang zur Verheiratung zu entziehen und ein ökonomisch eigenständiges Leben zu führen. Zu Unrecht aber werden jene Romane gerne aus dem Kanon heraus ins Abseits der Unterhaltungsliteratur verdrängt. Romanautorinnen wie Luise Otto-Peters, Fanny Lewald, Marie von Ebner-Eschenbach oder Hedwig Dohm haben zudem mit polemischen und theoretischen Schriften über Haus- und Reproduktionssarbeit, über die Verhältnisse weiblicher Dienstboten, gegen die Konvenienz- und Versorgungsehe oder für das Wahlrecht von Frauen an der Begründung der Frauenfrage als politischer mitgewirkt. Das Seminar wird sich zunächst in gemeinsamer Lektüre mit diesen theoretischen Einsätzen vertraut machen, worauf die daran anschließende Analyse von einem der Romane im asynchronen Selbststudium aufbauen soll.

Semester: SoSe 2021